Formen des Mythos
Vorrationale Überlieferung
Die ursprünglichen Formen des Mythos finden sich in den frühesten Überlieferungen der Menschheit, in denen die Welt nicht auf wissenschaftlichem Wege sondern durch deutende Erzählung erklärt werden. Es handelt sich um Götter-, Helden- Schöpfungs-, Vor- oder Frühgeschichte, die metaphorische und symbolische oder ins phantastische gehende Elemente enthält.
Mythen bieten oft Erklärungen für Existenz, Entwicklungen oder Zusammenhänge wie beispielsweise die Entstehung der Welt (Kosmogonie), der Herkunft von Göttern (Theogonie), des Menschen oder eines Volkes. In Mythen kann auch ein endzeitliches oder sogar jenseitiges Geschehen beschrieben werden (s. Apokalypse und Eschatologie).
Moderne kollektive Irrtümer
Es gibt auch moderne Mythen, die sich als kollektive, irrationale Vorstellung präsentieren, wie dies beispielsweise Roland Barthes in seinem Buch Mythen des Alltags macht.
In Form von kollektiven Irrtümern können Mythen sozialen Zusammenhalt erzeugen und Herrschaft sichern. Ein Beispiel könnte der Mythos vom Waldsterben sein.
Verführende Faszinosa
Lediglich im übertragenen Sinne spricht man von faszinierenden Personen, Dingen oder Ereignissen als einem Mythos, da die Faszination irrational begründet ist. Diese Auffassung ist nicht unumstritten; sie ist vor allem im angelsächsischen Raum zu beobachten, wenn dort etwa vom Mythos Rhein die Rede ist, von oder vom Mythos Marilyn Monroe.
Die moderne Werbewirtschaft macht sich die Mythisierung von Produkten zunutze.
Deutung
Psychologisch sind Mythen wie Märchen wegen der Projektionen, auf denen sie beruhen, tiefenpsychologisch deutbar (s. Archetypus). Göttermythen spiegeln zudem oft leicht erkennbar das Handeln und Wirken von Menschen wider; schon ihre ? deswegen anthropomorph genannte ? Darstellung erfolgt meist analog zu menschlichen Gegebenheiten oder Erfahrungen (z.B. Göttergeschlechterfolgen oder Götterfamilien; vgl. Griechische Mythologie).
Mythen können als bildhafte Weltauslegungen und Lebensdeutungen in Erzählform allgemeine Wahrheiten enthalten.
Abgrenzung
Kennzeichen des Mythos sind
Widerlegbarkeit des Sachverhalts durch rationale Überprüfung
Kollektiver Glaube an den Sachverhalt.
Damit gilt:
Kein Mythos ist demnach, was nicht hinreichend gesichert widerlegt werden kann. Ein Mangel an Nachprüfbarkeit allein reicht noch nicht aus, einen Sachverhalt zum Mythos zu erklären.
Kein Mythos liegt vor, wenn einzelne einem Irrtum verfallen.
Kein Mythos liegt vor, wenn die Präsentationsform eines Sachverhaltes den Rezipienten nicht zum Glauben einlädt.
Beispiele:
Fixe Ideen von Einzelgängern sind keine Mythen. Sie können aber zu Mythen werden, wenn es dem Einzelgänger gelingt, seine Ideen für andere glaubhaft zu machen. Es könnte dem Einzelgänger auch gelingen, durch die Faszination, die er auf andere ausübt, zu einem Mythos im übertragenen Sinne zu werden.
Mythen können ganz oder in Teilen auf historische Ereignisse zurückgehen, vgl. z.B. der Osiris-Mythos. Solche Mythen können nur in dem Maße als Mythos gelten, wie sie metaphysische Sachverhalte überliefern. Die reale Geschichte dahinter kann nicht als Mythos gelten, es sei denn im übertragenen Sinne eines Faszinosums.
Kein Mythos liegt auch bei einer zu belehrenden Zwecken geschriebenen Gleichniserzählung vor. Da diese als Erfindung erkennbar ist, lädt sie den Rezipienten nicht zum Glauben ein, womit die Entstehung eines kollektiven Irrtums ausgeschlossen ist.
Erzählungen, die über lange zurück liegende Ereignisse berichten und aus unsicheren Quellen stammen, dürfen nicht als Mythos denunziert werden. Fehlende Beweisbarkeit allein ist kein sicheres Urteil über die Irrealität eines Sachverhalts.
Es ist ein beliebter Irrtum, einen Sachverhalt, der durch seine Faszination zu einem Mythos im übertragenen Sinne geworden ist, selbst zu einem Mythos zu erklären. Dies ist ein irrationales Vorgehen, die Mythizität des Sachverhalts ist hier selbst nur ein Mythos.
Ein Beispiel für gleich mehrere irrtümliche Mythifizierungen ist der Atlantis-Bericht des Platon. Sofern es sich um eine Erfindung Platons im Sinne einer Gleichnisgeschichte handelt, ist es kein Mythos. Die Existenz von Atlantis hingegen ist nicht nachprüfbar und sogar unwahrscheinlich, aber nicht völlig unmöglich. Auch wenn Platon Atlantis nicht erfunden hat, kann Atlantis damit nicht als Mythos gelten. Im übertragenen Sinne eines Faszinosums ist Atlantis natürlich längst ein Mythos geworden.
Gegensatz: Logos
Als Gegensatz zum Mythos kann der Logos gesetzt werden, der anders als ein nicht nachprüfbarer Mythos dem rationalen Diskurs zugänglich ist und darüber mit Fakten in Bezug gesetzt werden kann. Die mythologische Wirklichkeit hingegen kann mit dem erweiterten Denken des Bewußtseins erforscht werden.Literaturwissenschaftlich ist dem Logos die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zuzuordnen, während dem Mythos religionswissenschaftlich die "Glaubenslehre" einschließlich der dazu gehörenden religiösen Tradition bzw. die Soziologie zugeordnet wird.
Mythenkreise
Mythen werden in den Mythologien der Völker systematisch zusammengefasst, überliefert bzw. tradiert und vor allem gedeutet. Die Genesis des Pentateuch der Bibel enthält in diesem Sinne mythische Erzählungen, neben der von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen etwa die vom Garten Eden als literaturwissenschaftliche Gattung; allerdings wird die Bibel selbst nicht als Darstellung einer Mythologie angesehen, da die zugehörige Religion noch existiert (anderenfalls wäre die dementsprechende "Theologie" als Mythologie aufzufassen).
Literaturgeschichte
Die schriftliche Niederlegung und dichterische Ausformung der Mythen kennzeichnet den "Beginn" der abendländischen Literatur, die immer wieder zentrale Motive des Mythos aufgreift und umformt. Bedeutend für die europäische Kultur sind die griechisch-römischen Mythen, die seit Homer und Hesiod zum Stoff der Dichtung wurden und bis ins 18. Jahrhundert hinein durch die Rezeption der Antike literarische Motive lieferten.
Platon (Gorgias 527a) und Aristoteles billigen dem Mythos nur noch die Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit zu (siehe hierzu im Vergleich Logos). Platon erzählt im Timaios einen selbst verfassten Mythos von der Entstehung der Welt (Kosmogonie), von dem wesentliche Aspekte bis ins Christentum überlebt haben (etwa die Unsterblichkeit der Seele).
Zu bedeutenden Mythenniederschriften gehören:
das Grimnismal in der Edda
die Purusha-Sukta im Rigveda
die Aitareya Upanishad
Ovids Metamorphosen
das Buch der Geheimnisse von Enoch
und viele mehr.
Die Dichter der Romantik griffen wieder auf griechische sowie nordische, später auch auf indische Mythen zurück.
Die Aufklärung verstand den Mythos als kindliche Vorstufe zum begrifflichen Denken und durch dieses überwunden. Horkheimer und Theodor W. Adorno betrachten im 20. Jahrhundert die Gefahr des Verlustes des Mythischen im Aufklärungsprozess. Hans Blumenberg rehabilitiert den Mythos von anderen Prämissen ausgehend als die Frankfurter Soziologen. Für ihn sprechen sich im Mythos existenzielle Grunderfahrungen aus, die den Menschen überlasten. Das Narrativ des Mythos lehrt einen Umgang mit diesen Situationen und stellt somit eine Entlastungsfunktion (Arnold Gehlen) für den Menschen dar. Dabei lässt sich der Mythos in klare, nicht bildhafte Sprache überführen. Gerade seine Polyvalenz gibt ihm seinen Reichtum und macht seine Interpretierbarkeit und Anwendbarkeit im Sinne von Nachvollzug, in unterschiedlichsten Praxiskrisen möglich.
Aktuelle Deutungen
In der heutigen Forschung wird der Mythos als rituelle Wiederholung von Urereignissen gedeutet, als erzählerische Aufarbeitung menschlicher Urängste und -hoffnungen. In dieser Funktion hat er nach dem Urteil von Psychologen und Philologen einen unaufholbaren Vorsprung gegenüber Begriffssystemen.
Nach Nietzsche ist das Unbehagen in der Kultur der Moderne Ausdruck des Mythosverlusts: "Dem mythenlosen Menschen der Moderne fehlt die Kraft der Abbreviatur, der Horizontbegrenzung, die der Mythos leistet. Der Mythos ist die Matrix des Weltbildes ? er stellt ein Bild von der Welt und umstellt die Welt mit Bildern" (Norbert Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 1991).
In der aktuellen Verwendung bezeichnet Mythos häufig auch eine Volksmeinung ohne Bestimmbarkeit der Herkunft bzw. Begründung (Mythos Spiegel) oder eine Überhöhung bzw. Stilisierung (Mythos Apple). Ein Politischer Mythos soll Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit stiften.
[ Editiert von Administrator Gemini am 22.04.06 14:28 ]