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RE: Kitsch, was ist das eigentlich?
in Definitionen und Erklärungen 26.09.2006 22:47von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
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Der Kitsch
Einleitung
Fällt heute das Wort Kitsch, denkt man dabei unweigerlich an Paradebeispiele, wie
Gartenzwerge in Vorgärten, Souvenirartikel aus dem letzten Urlaub, Heimatfilme im Alpenidyll,
usw. . Heute umfängt Kitsch die Aura der etwas lächerlich-simplen, teils auch nostalgischen Kunst-
Entartung, doch wird er zunehmends auch als Teil der Kunst und/oder Stilmittel eingesetzt und
anerkannt. Allgemein aber werden damit Attribute wie unecht, billig, seicht und kommerziell
assoziiert. Damit ist jedoch nicht die eigentliche Essenz des Kitsch-Phänomens getroffen, also die
Kriterien, die Kunst erst zu Kitsch machen. Das wird besonders bei Grenzfällen deutlich, die
gefühlsmäßig kitschig anmuten können, sich die konkreten Eigenheiten, die dazu führen, aber nur
schwer fassen lassen. Etwa bei einem Vergleich der beiden Bilder „Geburt der Venus“ von Cabanel
(Abb. 1) und „Ruhende Venus“ von Giorgione (Abb. 2) wird man dazu tendieren, das erstgenannte
als Kitsch zu bezeichnen. Kitsch läßt sich aber nicht nur in der bildenden Kunst antreffen, ebenso
gibt es Literatur, Filme, sogar Verhaltensweisen, die kitschig sein können.
Die Schwierigkeit einer Definition des Phänomens offenbart sich auch bei einem Blick in
Kunstlexika. Dort werden oft über viele Seiten hinweg die geschichtlichen Entwicklungen und
sozial-politischen Rahmenbedingungen dargelegt, um den Begriff zu erklären. Diese
Hintergrundinformationen sind tatsächlich unerlässlich für ein Verständnis von Kitsch, ebenso die
psychologischen Wirkungsweisen und nicht zuletzt auch die Definition von Kunst.
Daher soll hier solchen Betrachtungen vor einer bloßen Aufzählung von reichlich vorhandenen und
allgemein bekannten Kitschbeispielen der Vorrang gegeben werden. Abschließend stellt sich die
Frage, welchen Stellenwert der Kitsch in der heutigen Gesellschaft hat.
Kunsthistorischer Zusammenhang
Prinzipiell ist Kitsch im engeren, klassischen Sinne ein Phänomen der Neuzeit. Genauer gesagt
entstand es nach der Renaissance (Mitte 16. Jahrhundert) und fand seinen Höhepunkt im 19. und 20.
Jahrhundert. Damit ging es einher mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen, denn
während zuvor über Jahrhunderte hinweg die Gesellschaft von festen Hierarchien der
Adelsherrschaft durch Könige, Fürsten und Kaiser geprägt war, findet in der Neuzeit ein
Wertewandel, eine zunehmende Liberalisierung statt. Nach der französischen Revolution wird auch
in Deutschland mit etwas Verzögerung aus Monarchie und Ständegesellschaft nach und nach
Demokratie. Die Erfindung und Entwicklung der Dampfmaschine macht zudem die
Industrialisierung möglich und treibt sie voran, damit verbunden ist eine städtische Zuwanderung
von Arbeitskräften und damit Abschwächung der Agrarwirtschaft. Daraus folgt auch die Entstehung
einer breiteren, konsumfreudigen Mittelschicht, während zuvor prinzipiell nur Adel und
Arbeiterschaft existierten. Die Naturwissenschaften erleben einen Aufschwung und Glaube, wie er
z.B. noch das Mittelalter beherrschte, wird mehr und mehr durch Wissen ersetzt. Reformation und
Aufklärung stellen das alte Weltbild in Frage und beeinflussen die Gesellschaft nachhaltig.
Korrespondierend findet in der Kunst ein Umdenken statt. Die Sichtweise der Antike, Kunst habe
möglichst genau die Wirklichkeit zu reproduzieren und bloß realistisch darzustellen, ändert sich
grundlegend. Spätestens seit der Erfindung der Photographie (1839 von Daguerre) hat sich der
Anspruch der Reproduktion der Realität an die Kunst erübrigt. Während in der Moderne Kunststile
wie Kubismus, Konstruktivismus und Pop Art, um nur einige zu nennen, vorüberziehen, bleibt der
Kitsch als Phänomen bis in die Gegenwart immer präsent.
Innerhalb dieser Entwicklungen ist Deutschland besonders eng mit dem Kisch verbunden. Der
Begriff kam im damaligen Bismarckreich um 1870 auf, wobei der genaue etymologische Ursprung
des Wortes umstritten ist (könnte von „kitschen“ als „den Straßenschlamm mit einer Kotkrücke
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zusammenscharren“ stammen, es gibt aber auch andere Theorien). Im Münchener Raum entstand es
als Ausdruck für künstlerischen Schund und bezeichnete in jedem Fall minderwertige, unechte
Kunst, ist also ein stark abwertender Begriff. Unter anderem im Englischen und Französischen gibt
es keinen entsprechenden Ausdruck und Kitsch wurde in diese Sprachen aus dem deutschen
Wortschatz übernommen, was wiederum auf den besonderen Stellenwert gegenüber Deutschland
hinweist.
Die Diskussion
Seit 1900 wurde zahlreich Literatur zu dem Thema veröffentlicht und es wird deutlich, daß die
Diskussion um den Kitsch meist sehr emotional und wenig objektiv verlaufen ist. Gründe dafür
liegen sicherlich auch im Bestreben der Intellektuellen, sich vom „schlechten Geschmack“ und
damit auch von der Durchschnittsbevölkerung zu distanzieren.
In der Bemühung um eine Definition wurde Kitsch u.a. als „seichte Kunst“ bezeichnet (F. Linde),
die nur oberflächliche, einfache Inhalte umfasst und nicht die Tiefe wahrer Kunst vorweisen kann.
Daß diese These nicht zutrifft, läßt sich an Beispielen, wie Hennebergs Allegorie „Die Jagd nach
dem Glück“ anschaulich machen. Kitsch kann somit sehr wohl Tiefgründiges zum Inhalt haben.
Weiterhin wurde Kitsch auf kommerzialisierte Kunst reduziert, die als Ware das Massenpublikum
bedient. Popularität ist aber ebenfalls kein notwendiges Merkmal, denn auch z.B. Werke von
Shakespeare sind beliebt und weit verbreitet, ohne kitschig zu sein. Ebenso geht es beim
ideologischen Kitsch beispielsweise nicht um Kommerz, finanzielles Gewinnstreben muß somit
keine Notwendigkeit sein.
Daneben wurde die fehlende „Materialgerechtigkeit“ - in Anspielung auf die oft billigen
Massenartikel des 19. Jahrhunderts - als Charakteristikum herangezogen, was aber wiederum
allgemein ein Merkmal bloß schlechter Kunst ist und nicht notwendigerweise den Kitsch
auszeichnet.
Kitsch als unechte Kunst zu bezeichnen war und ist ebenfalls verbreitet, obgleich beispielsweise
auch Kopien von Kunstwerken keinesfalls kitschig sein müssen, was auch diese These entkräftet.
Besonders weit gegriffen hat H. Broch mit seiner Ansicht, Kitsch sei sogar „das Böse im
Wertesystem der Kunst“. Daß diese Sicht zu einseitig und radikal ist, liegt auf der Hand.
Das alles macht aber deutlich, wie schwer das Phänomen zu fassen ist und auch welche Vorbehalte
demgegenüber bestanden (und teilweise bestehen). Viele Deutungsversuche hatten im Kern die
Aussage, Kitsch sei lediglich unvollkommene Kunst, was aber bei weitem keine hinreichende
Erklärung ist, dann müßte dafür ja auch kein neues Wort erfunden werden. Unvollkommen ist
ebenso die Kunst vergangener Epochen, z.B. mittelalterliche Darstellungen oder Höhlenmalereien,
dennoch sind diese nicht kitschig. Außerdem gibt es Kitsch auch außerhalb der Kunst, z.B. als
kitschige Lebenseinstellungen oder Verhaltensweisen und in Filmen. Somit muß der Grund, warum
Kunst zu Kitsch wird, ein anderer sein.
Was ist Kitsch ?
Besonders häufig tritt Kitsch dann auf, wenn Umstände von ethischem Gewicht ästhetisch
umgesetzt werden sollen, also etwa bei Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Geburtstagen. Fast
immer kitschig sind ebenso Andenken wie auch Devotionalien (kirchliche Andenken), die ein
erlebtes Gefühl durch ästhetische Reize wieder hervorrufen sollen.
Das deutet schon auf eine starke Emotionalisierung hin und in der Tat spricht Kitsch stets
rudimentäre Gefühle an, die sogenannten Affekte (=heftige Erregung/Gemütsbewegung unter
Ausschaltung von Hemmungen; Begriff aus der Psychologie, Abb. 4) und verwandelt sie in eine
Quelle der Lust. Eine stichhaltige psychologische Analyse würde hier zu weit führen. Grundsätzlich
kann man aber sagen, daß Appetenz Lust aus Schönheit, Aversion Lust aus dem Grotesken zieht.
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Alles süßliche, geschönte, liebliche und idealisierte weckt Appetenzlust, wie z.B. in einem
schnulzigen Roman. Es läßt sich dem sentimentalen Roman aber auch negatives beimischen, etwa
eine schöne junge Frau, die an Schwindsucht dahinsiecht, was über Aversion und tränenreiches
Mitleiden ebenfalls Lust erzeugt und befriedigt.
Über- und Unterordnungsmechanismen werden z.B. bei Denkmälern und patriotischen Gemälden
wirksam, die entweder die Dominanzlust nationaler Überlegenheit oder die Submissionslust der
Untertanen gegenüber dem Herrscher wecken.
Auf diesen antagonistischen Affekten basiert also die Wirkung von Kitsch. Aber auch die Kunst
bedient sich der Affekte, wenn auch in geringerem Umfang. Was Kitsch dabei unecht und unehrlich
wirken läßt, ist die realitätsferne Simplifizierung der Affekte in feste Extreme. Abbildung 5 zeigt
das kitschtypisch erweiterte Schema, das die charakteristischen Stereotypen mit den Affekten in
Beziehung setzt. Zu der reinen Geliebten hat der Kitschmensch Dominanz- und Appetenzgefühle,
der gütigen Mutter gegenüber ist er ebenfalls positiv eingestellt, doch unterwirft er sich ihr, usw. .
Alles, was nun über diesen Rahmen hinaus geht, wird dämonisiert und der gütigen Mutter wird die
böse Stiefmutter, dem edlen Wilden der Verbrecher gegenübergestellt, und so fort. Eine weitere
unrealistische Steigerung erfolgt dann noch durch mystische Archetypen, z.B. wird die Stiefmutter
zur Hexe, der Verbrecher zum Teufel. Die reale Welt wird im Kitsch also stark vereinfacht und
klischeehaft auf wenige Muster polarisiert.
Nun stellt sich die Frage, warum diese Polarisierung in eine Scheinwelt von Gut und Böse
verführerisch ist. Die Antwort liegt im Regressions- und Projektionsverhalten des Menschen.
Regression läßt sich mit einem Sich-fallen-lassen und Flüchten vor der Realität in eine schönere,
einfachere, weniger entfremdete Welt umschreiben, quasi als Rückfall in die Kindheit. Durch
Projektion kann sich der Rezipient entweder unmittelbar aufwerten oder indirekt durch
Identifikation mit einer Autorität erhöhen. Regression hat Ideale wie Unschuld, Geborgenheit,
Reinheit und emotionale Integration, bewegt sich im Schema also innerhalb des Rahmens, während
Projektion Autorisierung, Sentimentalisierung, Dämonisierung und Erotisierung thematisiert. Die
folgende Auswahl an Kitschbeispielen soll zeigen, daß alle Kitscharten mit Projektion oder
Regression zu tun haben.
Beispiele und Kategorien
Als kurzer Einblick in die Vielfältigkeit von Kitsch sollen als Auswahl einige der wichtigsten
typischen Kitscharten zusammengestellt werden:
Niedlicher Kitsch:
Das typische Beispiel des Gartenzwergs kann hier eingereiht werden. Er ist nur eine größere Form
von als Nippes bekannten kleinen Figuren, die oft das Kindchenschema aufweisen, z.B. Kinder oder
Tiere (etwa die bekannten „Hummelfiguren“, Abb. ). Merkmale, wie ein großer runder Kopf in
Relation zum Körper und große Augen- kindliche Züge eben- zeichnen solche Figuren häufig aus.
Nippes hat keinen praktischen Nutzen, sondern wird nur aus emotionalem Grund aufgestellt: das
Kindchenschema ruft ein Gefühl der Überlegenheit hervor, bei Frauen weckt es Muttergefühle und
auch Kinder spricht es positiv an, erzeugt somit auf einfachem Wege Wohlbefinden. Niedlicher
Kitsch gehört zum Regressionskitsch.
Gemütlicher Kitsch:
Resultierte aus der „Verbürgerlichung“ der Kunst im 18. Jahrhundert, d.h. der wachsenden
Bürgerschicht nach der industriellen Revolution. Das Gemütliche wurde z.B. durch Spitzweg
thematisiert, dessen Bilder zwar nicht kitschig sind, jedoch das Gefühl jener Zeit repräsentierten
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und diese Art von Kitsch in Mode brachten. Ausdruck fand dies z.B. in den aufwendig
ausgestatteten Wohnzimmern dieser Zeit, die ausgestattet waren mit rotem Plüsch, künstlichen
Palmen, gedrechselten Säulen, u.ä. .
Sentimentaler Kitsch:
Auch dieser entwickelte sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, welches man auch als
Epoche der Empfindsamkeit bezeichnet. In dieser Zeit begann man, es als Aufgabe der Kunst
anzusehen, die Menschen zu rühren und es kam in Mode, in Gefühlen zu schwelgen. Von sog.
süßen Kitsch spricht man, wenn Glück die Rührung hervorruft, von bittersüßem Kitsch bei
Unglücksszenarien. Gerade in der Literatur wurden zahlreich tragische Melodramen verfasst, bei
deren Konsum der Leser Tränen über die in unglückliche Zufälle verwickelten Protagonisten
vergießen konnte. Im Gegensatz aber zur Tragödie, die tatsächliche menschliche Abgründe und
Konflikte differenziert darstellt und den Rezipienten erschüttert, kann man Dank der
kitschtypischen Vereinfachung und „Schwarz-Weiss-Sicht“ bei kitschigen Melodramen mit
gebührendem Abstand in Gefühlen schwelgen, die durch die bloßen Ereignisse hervorgerufen
werden und nicht durch echte „Anteilnahme“. Somit trifft auch hier der Regressionsmechanismus
zu.
Religiöser Kitsch:
Wahrscheinlich die älteste Form von Kitsch, denn ansatzweise kitschig ist bereits das in religiösen
Darstellungen durch das Kindchenschema verniedlichte Christuskind. Stärker noch wirkt sich der
im frühen 17. Jhd. aufkommende schmachtende Blick gen Himmel aus in Verbindung mit der
zunehmenden Individualisierung der Gesichtszüge. Dies jedoch steht der universellen religiösen
Botschaft entgegen und bekommt noch eine zusätzliche erotische Komponente, die Botschaft und
Darstellung auseinanderklaffen läßt. Eindeutiger Kitsch ist dies aber noch nicht, weil die Religion
im 17. Jahrhundert noch einen großen Stellenwert hatte. Nach der Aufklärung aber hat die Religion
dermaßen an Einfluß verloren, daß Religiösitätsbekundungen in Form der bereits erwähnten
Devotionalien nur unauthentisch und somit kitschig wirken können. Das neuzeitliche Rückfallen in
Religiösität ist somit regressiv
Erotischer Kitsch:
Weit verbreitet in Kitschromanen, werden im erotischen Kitsch meist zwei Tendenzen verfolgt.
Entweder, die reine Liebe wird idealisiert und es wird versucht, den vermeintlichen Schmutz des
Sexuellen auszuklammern oder aber die erotische Komponente wird bis ins rauschhaft-dämonische
gesteigert. Dementsprechend werden als Stereotypen in Romanen und Bildern das naive, reine und
unschuldige Mädchen oder das dämonisierte, verführende, schlechte Weib thematisiert. Diese
Grundtypen finden sich auch im oben dargestellten Affekt-Schema wieder. Je nachdem, welcher
Typ vorliegt, handelt es sich um Regression, oder im Fall der Dämonisierung um Projektion.
Ideologischer Kitsch:
Sämtliche Ideologien haben bisher Kitsch produziert, was auch damit zusammenhängen mag, daß
Ideologien, wie auch der Kitsch, stets einseitig und vereinfachend sind und alles, was nicht in das
Weltbild paßt, ausblenden. In diese Kategorie lassen sich beispielsweise Blut-und-Boden-Kitsch
und Monumentalkitsch einordnen. Letzterer, besonders im nationalsozialistischen Deutschland
verbreitet, hatte die enge Verbundenheit mit der Heimat, der „Scholle“ (Boden) zum Thema,
allerdings nicht im Sinne eines heimatlichen Idylls. Vielmehr wurde oft der Kampf und die
Verteidigung des Landes heroisch-pathetisch idealisiert, z.B. in Texten über die trotzige
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Selbstbehauptung der Küstenbewohner gegen die Nordsee, in einem ernsten, kargen Stil, wie ihn
schon Theodor Storm im „Schimmelreiter“ eingeleitet hat.
Monumentalkitsch:
Während ältere Bauwerke, wie etwa die Pyramiden, authentisch die subjektiv empfundene Größein
diesem Fall des Pharaos- widerspiegelten, sind Monumente wie die Köpfe der amerikanischen
Präsidenten von Mount Rushmore Kitsch (Abb. ), denn sie verstoßen gegen ihre eigenen Prinzipien,
im Beispiel gegen die demokratische Gleichstellung aller Menschen. Ebenso ist Stonehenge nicht
kitschig, der Personenkult des Sozialismus hingegen schon, weil auch dort in o.g. Weise die
proklamierten Grundsätze der Gleichheit verletzt werden. Das literarische Pendant zum
Monumentalkitsch in der bildenden Kunst ist die Heroisierung. Monumentalkitsch basiert auf
Submissions- und Dominanzaffekten, ist also Projektionskitsch.
Kitsch im Design:
In den achziger Jahren kam es in Mode, Objekte in Form anderer Objekte herzustellen (S. 103, 101,
24 Tisch, 21 Teekanne, 18 Zahnbürste), was nicht selten die Funktionalität in Frage stellte. Ähnlich
dem Formkitsch in der Kunst macht auch hier im Sinne von „Mehr Schein als Sein“ ein Zuviel an
unpassender Gestaltung den Kitsch aus. Was in der Kunst der Inhalt ist, kann im Design als die
Funktion angesehen werden, dann kann man auch hier die Inadäquatheit von Funktion und Form als
Merkmal des Design-Kitsches sehen. Die Funktion steht nicht im Vordergrund, sondern dem
Objekt wird nur etwas weiteres als Selbstzweck aufgesetzt. Das Gestaltungsprinzip „Form Follows
Funktion“ wird dabei übergangen, was sich oft in mangelhafter Ergonomie der Objekte
niederschlägt.
Stoff- und Formkitsch:
Neben der geschilderten Vereinfachung des Weltbildes, die typisch für den Kitsch ist und
Regressions- und Projektionsverhalten möglich macht, läßt sich ein weiteres formales Kriterium
nennen, nämlich das Nicht-zueinander-passen von Form und Inhalt, von Ästhetischem und
Ethischem. Es ist die Diskrepanz zwischen Ausdruckswollen und formaler Bewältigung, die den
Kitsch zusätzlich auszeichnet. Am Beispiel der Venus erläutert: die Zweideutigkeit in Cabanels
Bild ist die einerseits erotische Darstellung des nackten Frauenkörpers, andererseits aber die
formelle Verschleierung des Reizes in einer Atmosphäre, die durch die Putten und die rosa
Farbgebung Unschuldigkeit vermitteln soll. Dieses zwiespältige „Lüsternmachen“ macht das
Unehrliche und damit das Kitschige aus. Insofern hat Kitsch schon etwas mit Unechtheit zu tun, nur
nicht im Sinne von Imitation, sondern von Unehrlichkeit. Dagegen ist bei der Version von
Giorgione keinerlei Widerspruch zu spüren, dort wird die Sexualität offen gezeigt und nicht
verschleiert oder verfälscht.
Die geschilderte Inkohärenz läßt sich in mehrere Fälle gliedern. Einerseits kann der Inhalt größere
Ansprüche stellen, als die Form einlöst oder andererseits umgekehrt die Umsetzung sozusagen
besser sein als die Aussage rechtfertigen würde. Der erste Fall des „überladenen Inhalts“ läßt sich
als Stoffkitsch – Stoff im Sinne von Inhalt, Aussage - (auch Schwulst), den des im Vergleich zur
Aussage überzogenen Umsetzung als Formkitsch (auch Schmalz) bezeichnen (nach Gelfert). Was
besonders den Formkitsch begünstigt, ist die erst im 18. Jhd. aufgekommene und vorher völlig
unbekannte bürgerliche Einstellung, man habe sich Kunst mit Einfühlung zu nähern, sich also stark
emotional darauf einzulassen. Diese Einfühlung und somit starke „Nutzung“ von Appetenz und
Aversionseffekten macht Formkitsch erst wirksam. Auch allgemein wurde in der Anfangszeit des
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Kitsches mehr Form- als Stoffkitsch produziert, weil anfangs eher die klassischen Maler der
vorhergehenden Epochen imitiert wurden.
Auf Dominanz- und Submissionsaffekten spielt dagegen verstärkt der Schwulstkitsch, fordert also
Ehrfurcht vom Rezipienten. Auch das Credo der Ehrfurcht entwickelte sich erst am Ende des 18.
Jahrhunderts, als die Kunst mehr und mehr an die Stelle der Religion trat.
Speziell den Deutschen wird nachgesagt, sie würden tiefgründige, sinnbeladene Kunst besonders
schätzen und besonders in Deutschland war es lange Zeit Sitte, Kunst mit Einfühlung und Ehrfurcht
zu begegnen. Das Wort „Tüchtigkeit“, für das es z.B. im Englischen kein wirkliches Äquivalent
gibt, deutet außerdem auf eine gewisse Leistungsethik hin. Das heißt, im deutschen Kulturraum gilt
es tendenziell als anstrebsam, sich anzustrengen und das auch zu zeigen, während sich etwa im
englischen Kulturkreis das Sichtbar-Machen der Anstrengung eher verbietet. Das machte es dem
Kitsch in Deutschland leichter, denn hochtrabende literatische sowie in der Kunst formelle
Verrenkungen wurden als positiv bewertet, unabhängig davon, ob auch der Inhalt gleichzieht. Diese
Haltung verhindert aber eine kritische Distanz und erklärt die starke Verbreitung des Kitsches in
Deutschland.
In der Literatur offenbart sich schmalziger Kitsch durch Adjektive wie „hold“, „traut“ und
„züchtig“ sowie durch Diminutivformen mit der Endung –lein, wie z.B. in einem Kitsch-Bestseller
von Heinrich Claurens „Mimili“ (1816) deutlich wird:
„Das Brüstli wie das Miederchen war von schwarzem Sammet, geschnürt mit goldenen Kettchen und reich und
geschmackvoll gestickt, mit Gold und buntfarbiger Seide. Die weiten Ärmel, von allerfeinsten Battist, reichten vor bis
zur kleinen Hand; und gleichfalls vom nämlichen Battist war das Hemdchen, das den blendend weißen Hals und den
Busen züchtiglich verhüllte. Das schwarzseidene, hundertfältige Röckchen reichte kaum bis über das Knie, so daß die
Zipfel der buntgestickten Strumpfbänder die feingeformte Wade sichtbar umspielten ...“
Schwülstig wird es dann, wenn z.B. von „hehr“, „Recke“, „Scholle“ oder „Weib“ die Rede ist.
Diese beschriebene Zweideutigkeit löst im (sensiblen) Rezipienten das Gefühl aus, sein Urteil solle
bestochen werden und es stellt sich bei ihm der Eindruck des Unauthentischen ein- Kunst wird zu
Kitsch.
Hier sollte noch einmal angemerkt werden, daß Kitsch keinesfalls in schlechter Absicht produziert
wird, sondern im Gegenteil aufrichtig gemeint ist. Eine Ausnahme bildet die Kitschkunst, die sich
der Mittel des Kitsches bedient, aber neben Form- und Stoffkitsch eine dritte Kategorie bildet. Bei
dieser Symbiose von Kunst und Kitsch bewegen sich sowohl Inhalt als auch Umsetzung auf hohem
Niveau, passen jedoch nicht zusammen. Jeff Koons ist ein berüchtigter Vertreter dieser Kunstform.
Sein „Popples“ etwa ist äußerlich ein typischer Vertreter jener niedlich-kitschiger Kuscheltiere,
wurde jedoch aus Porzellan gefertigt, was die Aussage widersprüchlich macht und Assoziationen
zum „guten Porzellan“ aus Kindertagen, das nicht angefaßt werden darf, wachruft. (1989
„Popples“)
Kitsch und Kunst:
Wie anfangs schon angedeutet, ist es durchaus nicht immer einfach, über ein Objekt das Urteil des
Kitsches zu fällen, denn die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch sind fließend. Der entscheidende
prinzipielle Unterschied zwischen beidem ist aber, daß die Kunst den Betracher sozusagen nicht vor
vollendete Tatsachen stellt, sondern Raum für einen Wertungsvorgang und ein eigenes, kritisches
Urteil läßt. Der traditionelle „Zweck“ oder die Aufgabe von Kunst unter anthroposophischem
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Gesichtspunkt besteht gemäß einer möglichen Definition darin, Grenzen zu überschreiten, die auf
sozialer, politischer, ästhetischer, u.a. Ebene in der Gesellschaft bestehen. Das setzt aber eine
gewisse kritische Auseinandersetzung voraus. Beim Kitsch hingegen steht die Aussage von
vornherein fest, er überschreitet in keiner Weise Grenzen. Durch das Ansprechen von Affekten,
durch „Fertigeffekte“, wird eine bestimmte feste Intention verfolgt. Damit kann man sich Kitsch nur
irrational nähern, eine kritische Auseinandersetzung wie in der Kunst im Sinne von
Weiterentwicklung einer Sichtweise, eines Standpunktes, ist weder möglich noch gewollt. Kitsch
zeichnet sich durch Vereinfachung aus, während Kunst die reale Ambivalenz der wirklichen Welt
widerspiegelt.
Historisch läßt sich das Aufkommen von Kitsch ansatzweise mit den im Zuge der Aufklärung und
des sich wandelnden Weltbildes immer stärker zunehmenden Freiheiten in der Gesellschaft
erklären. Während sich die Menschen in Zeiten fester Hierarchien und Wertesysteme nach diesen
Freiheiten sehnten und in der Kunst fanden (vgl. z.B. die derben Gemälde des mittelalterlicher
Orgien), wünschen sie sich in einer liberalisierten Gesellschaft – durch die erlangte Freiheit eher
geängstigt - solche festen Werte zurück und finden die Befriedigung dieses Bedürfnisses im Kitsch.
Psychologisch gesehen macht es die Teilung der Welt in Gut und Böse und Richtig und Falsch den
Menschen offensichtlich leichter, sich zurechtzufinden und ist wohl auch ein Zeichen der
Entfremdung, die oft als ein Grund für Kitsch gesehen wird.
Unter sozialen Gesichtspunkten betrachtet entstand im 19. Jahrhundert, der Blütezeit des Kitsches,
einerseits der bürgerliche Wunsch nach geschütztem Innenraum („trautes Heim“, übrigens auch
dieses Adjektiv ist kitschig besetzt), andererseits nach Repräsentation und Demonstration von
Luxus. Die technischen Entwicklungen machten massenproduzierte Kitschartikel allen Schichten
zugänglich und ermöglichten so die Auslebung dieser Bedürfnisse.
Kitsch heute
Inwieweit das oben gesagte jedoch heute noch gilt, ist fraglich. Geschichtlich gesehen erklärt es die
Entstehung von Kitsch. Gegenwärtig aber hat sich auch der Stellenwert von Kunst gewandelt und
damit auch der des Kitsches. Während früher breite Debatten über den „guten“ oder „schlechten“
Geschmack geführt wurden, sind die Grenzen der Kunst in der heutigen liberalisierten, fast
tabulosen Gesellschaft viel weiter gesteckt als damals. Um Grenzüberschreitungen zu realisieren,
muß viel weiter gegangen werden und Kitsch ist dabei nur ein weiteres Stilmittel. Insofern hat
Kitsch die Aura des Anstößigen, Verachtenswerten weitgehend verloren. Besonders nach den 60er
Jahren hat die moralische Negativbesetzung von Kitsch nachgelassen und wurde zunehmends durch
ironische Distanz und Nostalgie ersetzt. Kitsch ist heute eher Kult als schlechte Kunst. Dennoch
wird bei näherer Betrachtung auch deutlich, daß der Kitsch längst seine „klassische Phase“
überschritten und Einzug gehalten hat in die Medienlandschaft. Kaum ein Kinofilm kommt noch
ohne die Regressions-Mechanismen aus und das Nutzen dieser Mittel ist fester Bestandteil unserer
Unterhaltungskultur. Wenn heute in Filmen wie „Titanic“ massenweise um den Helden geweint
wird, der sich selbstlos für seine Geliebte opfert, wird in gleicher Weise auf die Affektreaktionen
gesetzt, wie in Kitschromanen des 19. Jahrhunderts. Anders allerdings verhält es sich mit dem
Projektionskitsch, der fast vollständig verschwunden ist, denn heute besteht kaum noch die
Bereitschaft, Autoritäten zu akzeptieren.
Fazit
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Es gibt viele Ansätze, sich Kitsch zu nähern. Sicherlich läßt sich auch reichlich philosophieren und
interpretieren und bis jetzt ist man auch in der Literatur zu keinem endgültigen Ergebnis gelangt.
Einige Grundsätze kristallisieren sich bei der Auseinandersetzung allerdings heraus.
Ein wichtiges Merkmal ist die Vermischung von Ästhetik und Ethik und vor allem deren fehlende
Korrelation. Der Inhalt oder die Form überwiegt, sie decken sich aber nicht. Bezeichnend für den
Kitsch ist ebenso die Vereinfachung. Die Neuzeit brachte einen tiefgreifenden Wertewandel und
eine Liberalisierung mit sich und entließ die Menschen aus jahrhunderte-, sogar jahrtausendelangen
Wertesystemen. Die darauf folgende Orientierungslosigkeit hatte entscheidenden Anteil am
Entstehen von Kitsch, der die durchaus legitimen Bedürfnisse nach Sentimentalität, Illusionen und
der Flucht aus der Realität befriedigte. Daher sollte man Kitsch nicht verurteilen, und als rein
ästhetisches Phänomen sehen, sondern ebenso die sozialen und psychologischen Gesichtspunkte
berücksichtigen.
http://www.stud.uni-hannover.de/~koerst/...ion%20Kitsch%22
Literatur/ Quellen
„Kitsch as Kitsch can“ Peter Ward, 1992
“Der Kitsch” Gillo Dorfles, 1969
„Was ist Kitsch ?“ Hans-Dieter Gelfert, 2000
„Kitsch- Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage“ Harry Pross (Hrsg.), 1985
„Kunst oder Kitsch ? Ein Führer zur Kunst“ Franz Linde, 1934
„Kitsch-Lexikon von A bis Z“ Gert Richter, 1970
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