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RE: Nürnberger Manifest von Martin Ellrodt

in Märchenerzähler 18.06.2006 21:18
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

Das Nürnberger Manifest
von Martin Ellrodt

Die folgenden Überlegungen und Bewertungen sind das Ergebnis einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit der Ausdrucksform "Erzählen". Sie verstehen sich nicht als Vorschrift, wie diese in Zukunft auszusehen hat, sondern sollen zur Diskussion in einer Kunstform anregen, die in Deutschland, das zeigt der Blick in andere Länder, von Erstarrung bedroht und zu stark von kritiklos übernommenen Anschauungen geprägt ist.(Aus Gründen der Lesbarkeit wird nur die weibliche Form verwendet; die männliche ist damit selbstverständlich mitgemeint.)

- Alle diejenigen, die sich als ErzählerInnen im eigentlichen Wortsinn verstehen, sind aufgefordert, ihre Position und Tätigkeit neu zu bestimmen, ohne sich durch die Vergangenheit auf bestimmte Muster festlegen zu lassen.

Weil: Es gibt im deutschsprachigen Raum keine ungebrochene Tradition, die von den ErzählerInnen vergangener Jahrhunderte zu den in den letzten Jahren verstärkt in Erscheinung tretenden Erzählenden führt. Auch kann nicht mehr von einer mündlichen Überlieferung die Rede sein, da die meisten Geschichten, die gegenwärtig erzählt werden, aus redaktionell bearbeiteten Sammlungen stammen, die mehr oder weniger stark vom Stil der Herausgeberin und der Übersetzerin geprägt wurden. Ob es im Zeitalter der Informationsgesellschaft je wieder eine orale Tradition geben wird, die über Witze, Anekdoten und urban legends hinaus geht, sei dahingestellt, ist aber auch nicht die zentrale Fragestellung. Fest steht: es gibt ein nicht zu vernachlässigendes Interesse an mündlich vorgetragenen Geschichten, die ohne großen Aufwand inszeniert werden, und die ihre Faszination aus der persönlichen Zuwendung und Nähe der Erzählenden zum Publikum beziehen. Alle, die in diesem Bereich tätig sind, haben nunmehr die Gelegenheit, neue Formen der Erzählkunst auszuprobieren, Grenzen zu überschreiten, mit ihrer Kunst Bezug zu nehmen zur gesellschaftlichen Realität, und dieser Ausdrucksform neue Freunde zu gewinnen.

- Objekt des mündlichen Erzählens sind keineswegs nur Märchen im (oft kontrovers diskutierten) wissenschaftlichen Sinne, sondern auch Schwänke, Gruselgeschichten, Rätsel, Anekdoten, Mythen, selbstverfasste Werke, Sagen, Legenden, Kunstmärchen, Witze.

Weil: Auch in den Erzählsituationen der Vergangenheit wurden nicht ausschließlich Märchen, und schon gar nicht ausschließlich Zaubermärchen, erzählt. Wieviel davon die jeweilige Erzählerin ihrem Publikum zumutet und zutraut, bleibt ihrer persönlichen Einschätzung überlassen. Die Kunst des mündlichen Erzählens würde sich wesentlicher Möglichkeiten und Facetten berauben, wenn sie andere Formen bis hin zu selbsterdachten Geschichten außer acht ließe. Denn Erzählen heißt zunächst generell, eine Geschichte nachzuvollziehen, die Zuhörenden damit zu berühren und zu erfreuen, unabhängig davon, welcher literarischen und wissenschaftlichen Definition die jeweilige Geschichte entspricht. Im englischsprachigen Kulturraum hat man diesem Umstand Rechnung getragen und die umfassenden Begriffe "storytelling" bzw. "storyteller" geprägt, die auch, aber nicht nur das Erzählen von Volksmärchen beinhalten.

- Es ist sinnvoll, in Zukunft eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten der mündlichen Wiedergabe einer Geschichte zu treffen: zwischen dem Erzählen einerseits und der Rezitation andererseits.

Weil: Das Erzählen einer Geschichte beinhaltet, zumindest in westlichen Kulturen, die eigenständige, kreative Auseinandersetzung mit deren Inhalt, nicht nur mit der irgendwann einmal schriftlich fixierten Fassung einer ihrer Varianten. Es ist unüblich, einen Witz, in der Zeitung abgedruckt ist, zunächst auswendig zu lernen, bevor man ihn weitererzählt. Wenn man Freunden den Inhalt eines Spielfilms oder soeben gelesenen Buches wiedergeben will, wird man auch nicht auf eine authorisierte Inhaltsangabe des Verlages warten. Deswegen lässt die mündliche Erzählung viel Freiheit für Bewertungen, Kommentare, Dialog mit den ZuhörerInnen. Diese persönliche Gestaltung einer Geschichte ist ein konstituierendes Element der mündlichen Erzählung. Will man dagegen ein Märchen beispielsweise der Brüder Grimm (die unbestritten eine hohe sprachliche Qualität besitzen) oder aus der Sammlung Afanasjev wortwörtlich zu Gehör bringen, handelt es sich den einschlägigen Definitionen entsprechend um die Rezitation eines literarischen Textes, die einen größeren Abstand zwischen Text und der wiedergebenden Person erlaubt, die Gestaltungsfreiheit aber erheblich einschränkt.

- Jede Erzählerin darf frei von Beschränkungen, die außerhalb ihres persönlichen Geschmacks und ihrer Eigenverantwortung als Künstlerin liegen, beliebig Geschichten (und damit auch Märchen) erzählen , verändern, verkürzen, verlängern, umdeuten, verfremden und kommentieren.

Weil: In einer pluralistischen und multi-polaren Kultur und Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik finden, darf es für die mündlich vorgetragene Erzählung kein Monopol auf bestimmte Textfassungen geben, schon gar nicht auf solche, die aus dem vergangenen Jahrhundert stammen und deswegen gar keinen Anspruch erheben können, lebendige Überlieferung zu sein, ganz unabhängig davon, wieviel Textredaktion bei der schriftlichen Fixierung stattgefunden hat. Davon unberührt bleiben etwaige Urheberrechte für literarische Werke einzelner AutorInnen. Auch die Form des Vortrags ist selbstbestimmt: das Erzählen von Geschichten ist kein selbstverständlicher Bestandteil der Alltagskultur mehr (Ausnahmen: Witze, urban legends, eigene Erlebnisse), sondern nähert sich in Durchführung und Rezeption den darstellenden Künsten: es wird als kulturelles Ereignis verstanden. Hier aber herrscht künstlerische Freiheit: Erlaubt ist, was gefällt und der jeweiligen Erzählerin wesentlich erscheint. Genau wie bei Geschichten, die mit anderen Mitteln als dem mündlichen Vortrag realisiert werden (Filme, Bücher, Theaterstücke) entscheidet die jeweilige Gestaltung über Erfolg und Misserfolg, darüber, ob die Geschichte in der Erinnerung der ZuhörerInnen weiterlebt.

- Die ErzählerInnen unterscheiden sich von anderen darstellenden KünstlerInnen wie SchauspielerInnen oder RezitatorInnen dadurch, dass sie für die von ihnen erzählte Geschichte unmittelbar Verantwortung übernehmen.

Weil: Niemand käme auf die Idee, den Darsteller des Shakespearschen Richard III. aufgrund seiner Identifikation mit der Rolle ebenfalls für ein Charakterschwein zu halten. Allenfalls die Regisseurin ist muss für die Gesamtaussage der Inszenierung geradestehen. So auch die Erzählerin, die im Moment des Erzählens als Regisseurin wirkt. "Steht aber so im Text" ist keine Entschuldigung für die unkritische Reproduktion rassistischer ("und zur Strafe bekam er eine schwarze Haut"), sexistischer (Unmengen ungefragt verheirateter Königstöchter) oder allgemein historisch überholter Anschauungen (Bild des heroischen Soldaten im Krieg). Die Aussagen, die eine Erzählerin im Laufe einer Geschichte macht, werden vom Publikum unmittelbar mit ihrer Persönlichkeit verknüpft.

- Es bleibt der einzelnen Erzählerin überlassen, ob und in welchem Maße sie die Erzählung interpretieren will und welches der vielfältigen Deutungsmodelle sie dazu heranziehen möchte.

Weil: Groß an der Zahl sind mittlerweile die Möglichkeiten, Geschichten und hier vor allem Zaubermärchen gemäß den einzelnen Schulen zu deuten. Dabei bleibt es jedoch aus wissenschaftlicher Sicht umstritten, ob ein Märchen überhaupt eine einzige, allgemeingültige Interpretation zulässt. Daher ist es für die Erzählenden genauso statthaft, sich der verbindlichen Interpretation einer Geschichte zu verweigern. Jedenfalls sind alle ErzählerInnen aufgefordert, Deutungsmodelle nicht kritiklos und unreflektiert zu übernehmen, sondern sie an eigenen Erfahrungen zu messen und irrationales Wunschdenken, was Gehalt und Rezeption vor allem der Zaubermärchen betrifft, zu vermeiden. Weitere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit diesem kontroversen Thema bieten entsprechende Publikationen wie beispielsweise FABULA, internationale Zeitschrift für Erzählforschung.

Über Rückmeldungen, Kritik und Anmerkungen würde ich mich freuen.
Martin Ellrodt, Nürnberg, im November 1998


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