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RE: Schweizer Volksmärchen
in sonstige europäische Märchen 06.12.2007 12:50von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Das schneeweiße Steinchen
Es war einmal ein Hirtenbube, der mußte alle Tage auf dem .L/Berge Geißen und Schafe hüten. Dabei konnte er singen wie ein Vogel und jodeln, daß man's weit und breit im Tal unten hörte. Eines Tages bekam er Durst und suchte lange auf der ganzen Weide herum nach einem Trunk Wasser, endlich fand er unter einer hohen Tanne ein Weiherlein. Da kniete er nieder und schlürfte begierig das Wasser in den trockenen Gaumen. Indes er also über das Weiherlein gebeugt lag, sah er unten im Wasserspiegel, daß auf der Tanne oben ein Vogelnest war. Nicht faul, kletterte er wie ein Eichhörnchen baumauf und suchte und griff nach dem Ast, den er im Wasser gesehen hatte; aber von einem Nest fand er nicht Staub und nicht Flaub. Unverrichteterdinge mußte er wieder herabsteigen.
Als er unten war, lugte er noch einmal in das Wasser, und siehe da! Abermals sah er das Nest ganz deutlich. Was gibst, was hast war er wieder oben im Baum, aber auch diesmal konnte er das Nest nicht entdecken. Das trieb er so zum dritten und vierten Mal. Endlich fiel es ihm ein, er wolle im Wasser alle Äste zählen bis zum Nest hinauf. Gedacht, getan, und nun ging's. Er kletterte und zählte richtig, und als er bei dem rechten Aste angelangt war, griff er zu und hielt plötzlich ein schneeweißes Steinchen in der Hand, und nun bekam er auch das Nest selber zu sehen. Da ganz vorne auf dem Ast lag's, daß er sich verwunderte, wie es ihm so lange hatte entgehen können. Da ihm das schneeweiße Steinchen gefiel, steckte er's in die Tasche und stieg herunter.
Am Abend trieb er seine Geißen und Schafe heim und sang und jodelte dabei nach seiner Gewohnheit aus Herzenslust. Aber was geschah? Wie er ins Dorf kam, sperrten die Leute Maul und Augen auf, denn sie hörten ihren Geißbuben wohl singen, aber kein Mensch sah ihn. Und als er vor seiner Eltern Haus kam, sprang der Vater heraus und rief: "Ums Himmels willen, Bub, was hast du gemacht? Komm herein in die Stube." Vater und Mutter wußten vor Schrecken nicht, wo aus und ein, und der Bube wußte nicht, daß er unsichtbar war, bis es ihm der Vater sagte.
"Bist du etwa auf einem Hexenplatz gewesen?" fragte der Vater.
"Nein", sagte der Bube und erzählte von dem Vogelnest. "Gib weidlich das Steinchen heraus!" riefen Vater und Mutter.
Da gab er es dem Vater in die Hand, aber was geschah? "Herr Jesus, Ätti, wo bist du?" riefen die Mutter und der Bube. Denn jetzt war der Bube wieder sichtbar, aber der Vater war dafür unsichtbar geworden.
Dem war's jedoch, als ob er eine Kröte in der Hand hätte, und er warf das Steindien auf den Tisch. Aber was geschah? Da sahen sie den Tisch nicht mehr. Jetzt fuhr der Vater auf, tappte nach dem Tisch und erwischte glücklich das Steinchen. Wie der Wind sprang er mit demselben aus dem Haus und warf es mitten in den Ziehbrunnen hinunter. Aber hei! Wie das da drunten blitzte und krachte, nicht anders, als wenn Himmel und Erde zusammenstürzen müßten. Was gibst du mir, wenn ich's wieder heraufhole?
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
RE: Schweizer Volksmärchen
in sonstige europäische Märchen 06.12.2007 12:52von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Das Zwerglein Türliwirli
Ein Bursche aus dem Oberwallis heiratete das Türliwirli, die Tochter eines Zwerges.
Die Frau bat ihn bei der Hochzeit, er möchte ihr versprechen, sie nie beim Namen zu nennen, was er auch gelobte. Im Juni ging er ins Alpwerk, und als er spätabends nach Hause kam, sagte ihm die Frau, heut hätte sie böse Zeit gehabt, denn diese Nacht werde es gefrieren, und da hätte sie das grüne Korn geschnitten und zwischen Tannenreiser gelegt. Der Mann fuhr auf und rief: "Du vermaledeites Türliwirli", doch kaum hatte er das gesagt, war sie zur Tür hinaus und verschwunden. In der Nacht gefror es, und die Saaten der Nachbarsleute gingen zugrunde.
Der Mann hatte drei Kinder, die er zu Hause ließ, wenn er auf die Arbeit ging. Da kam denn jeden Morgen die Mutter, wusch und kämmte sie, so daß der Vater, wenn er heimkehrte, die Stube aufgeräumt fand und die Kinder gewaschen und ordentlich angezogen. Da fragte er, wer das tue, er habe doch das Haus geschlossen und den Schlüssel versteckt. Die Kinder riefen, die Mutter sei gekommen und hätte das alles besorgt. Der Vater hatte ein großes Verlangen nach seinem Weibe, und er hätte ihr gerne Abbitte geleistet, wenn sie sich nur gezeigt hätte. So sagte er den Kindern, sie sollten doch die Mutter fragen, wie sie es nur anstelle, ins verschlossene Haus zu kommen.
Als die Kinder die Mutter darum befragten, erwiderte sie, sie wisse doch schon, wo der Schlüssel stecke. Der unglückliche Vater bat nun einen Freund, aufzupassen, und wenn die Frau ins Haus trete, die Tür zu schließen und ihn zu rufen. Das geschah auch, und nun eilte der Vater ins Haus und bat die Frau um Verzeihung. Nun lebten sie noch manches Jahr glücklich zusammen.
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
RE: Schweizer Volksmärchen
in sonstige europäische Märchen 07.12.2007 10:42von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
ja, aber wenn man nach dankbaren Toten sucht und nicht nach Pflasterbuben....
es ist ein wunderschönes Märchen, das muss man einfach vorstellen
Vom Pflasterbub zum Prinzen
Ein reiches Ehepaar hatte einen Sohn. Der Vater hatte seine Gelder in einer andern Landschaft angelegt. Als der Sohn herangewachsen war, sagte er zu ihm: "Du kannst mich jetzt begleiten, wir holen die Zinsen. Das nächste Mal kennst du dann den Weg und kannst dann allein gehen!" Der Sohn begleitete den Vater, und sie holten den Zins. Nach einem Jahr sagte der Vater: "Geh und hole mir den Zins, den Weg kennst du ja!"
Der Sohn begab sich auf den Weg und erhielt den Zins, mußte aber in der Stadt über Nacht bleiben. Im Verlauf des Abends ging er spazieren. Da sah er eine Gruppe von Leuten, die einen toten Menschen auspeitschten. Als er fragte, was das zu bedeuten habe, erhielt er zur Antwort: "Das ist hier so der Brauch: wer stirbt, ohne seine Schulden zu bezahlen, wird ausgepeitscht!" Das schien ihm eine Barbarei zu sein. Er fragte, wie groß die Schulden des Toten seien. Als man ihm die Summe nannte, griff er in den Sack, zog die Zinsen heraus und bezahlte die Schuld, damit der Tote nicht länger mehr geprügelt werde. Dann zog er nach Hause.
Der Vater fragte ihn, wo er das Geld habe. Da zeigte der Sohn den leeren Sack und erzählte seine Erlebnisse. Der Vater wurde sehr böse und schrie ihn an: "Du dummer Narr, der Tote hat ja die Schläge nicht gespürt, lasse mir solche Streiche in Zukunft!"
Nach einem Jahr hieß ihn der Vater wieder den Zins holen, "aber die Dummheiten laß mir sein", ermahnte er ihn. Der Sohn unternahm die Reise und erhielt den Zins. Auf der Rückreise kam er bei einem großen Gebäude vorüber. Zuunterst in der Mauer war ein kleines Loch, und drin bemerkte er eine Frauenhand, die winkte. Er fragte, wer drin sei. Da rief es aus dem Gefängnis: "Hilf mir heraus, ich bin eine gestohlene Jungfrau!" Er ergriff ein Messer, vergrößerte das Loch und zog sie heraus. Dann begleitete er sie in die nächste Stadt, suchte eine Wirtschaft, in der er das Mädchen für die Kost verdingen konnte, und drückte dem Wirt den ganzen Zins für sie in die Hand.
Zu Hause angekommen, fragte der Vater, wo er den Zins habe. Er erzählte, wie er dazugekommen, das Geld für ein Werk der Nächstenliebe auszugeben. Da wurde der Vater böse und jagte ihn fort. Da zog er in die Stadt zu dem Mädchen. Dieses erzählte ihm, sie sei eine Königstochter, sie hätte dem Vater geschrieben, und er habe ihr Geld gesandt. Sie lud ihn ein, sie nach Hause zu begleiten, denn sie hatte schon Neigung zu dem tapfern Burschen gefaßt. Sie mußten über das Meer reisen. Der Kapitän des Schiffes sah wohl, daß die Königstochter in den Begleiter verliebt war. Ihm gefiel sie aber auch, und er machte mit den Matrosen aus, ihn ins Meer zu werfen. Als sich ein Sturm erhob, rief man den Burschen aus der Kabine und bat ihn, auch Hand anzulegen. Als er helfen wollte, wurde er gefaßt und ins Meer geworfen. Er konnte sich an einem Brett festklammern, das ihn über Wasser hielt, und während das Schiff fortzog, wurde er ans Ufer einer Insel geschwemmt.
Die Königstochter weinte und trauerte um den verlorenen Geliebten. Der Kapitän aber brachte sie ihrem Vater, dem König, und sagte, er habe ihr das Leben gerettet und verlange sie zur Frau. Der König war damit einverstanden. Die Tochter aber sehnte sich nach ihrem wirklichen Retter und schob die Heirat immer hinaus; noch ein Jahr wenigstens sollte der Kapitän warten.
Der unglückliche Bursche auf der Insel schaute jeden Tag aus, ob nicht ein Schiff käme, dem er ein Zeichen geben könne. Aber weder Segel noch Mäste zeigten sich, und so verstrich ein ganzes Jahr. Da kam eines Tages ein Hase durchs Wasser geschwommen, der anfing zu reden: "Setze dich auf meinen Rücken und sage mir, wohin ich dich tragen soll!"
Der Bursche nannte die Gegend, wo die Königstochter zu Hause war, und der Hase trug ihn durchs Meer ans Land. Zum Abschied sagte das Tier: "Ich bin der Tote, den man ausgepeitscht und für den du bezahlt hast. Als Hase muß ich meine Schulden abbüßen, aber jetzt bin ich erlöst!" Damit verschwand er.
Der Bursche wanderte zu und kam in die Residenz. Als Pflasterjunge wurde er im Palast des Königs angestellt. Auf dem Schiff hatte er der Königstochter oft auf einer Flöte vorgespielt. Diese Flöte, die er immer bei sich getragen, hatte er gerettet. Nach Feierabend setzte er sich auf die Mauer und spielte seine alten Weisen. Die Königstochter hörte ihn und sagte: "Wenn er nicht ins Wasser gestürzt wäre, so würde ich sagen, das sei mein Geliebter, der da unten spielt, denn grad solche Melodien hat er geblasen!"
Unterdessen war die Hochzeit angesagt worden, denn das Jahr war um. Zum Hochzeitstage war der Pflasterbub als Flötenspieler eingeladen worden. Beim Gastmahl schlug nun der König vor, jeder der Gäste möchte etwas aus seinem Leben erzählen. Als der Kapitän an die Reihe kam, erzählte er, wie er seine Braut vor dem sichern Tode gerettet habe. Da wurde auch der Flötenspieler aufgefordert, seine Schicksale zu erzählen. Er sagte: "Gestattet mir zuerst eine Frage an den Kapitän: Welchen Tod erleiden diejenigen auf den Schiffen, die falsch schwören?"
Der Kapitän gab zur Antwort: "Die werden lebendig gevierteilt!"
Da fing er nun an mit seiner Lebensgeschichte, erzählte, wie es ihm ergangen sei, wie der Kapitän ihn ins Meer geworfen habe und wie er wunderbar gerettet worden sei. Die Königstochter erkannte ihn und stürzte in seine Arme. Der Kapitän wurde gefesselt und in den Turm geworfen. Er sollte nach seinem eigenen Urteil gevierteilt werden, aber der Flötenspieler verwendete sich für ihn; er habe seinerzeit einen Toten losgekauft und er finde, ein Lebendiger sei noch mehr wert. Da wurde der Kapitän aus dem Lande gewiesen, und der Bursche heiratete nun die Prinzessin.
Quelle: Johannes Jegerlehner, Sagen aus dem Oberwallis, Basel 1913. Nr. 142. S. 118 - 120.
(Kanton Wallis, Ems im Turtmanntal). AaTh 506 A.
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
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