Die leuchtende Perle
Vor langer, langer Zeit lebte im Ostmeer, tief unten auf dem Meeresgrund, der Drachenkönig. Er hatte eine Tochter, die sehr schön und außergewöhnlich klug war.
Sie war achtzehn Jahre alt und der Drachenkönig suchte nach einem würdigen Bräutigam für sie.
Seine Tochter aber mochte keinen von ihnen.
Ach, der Drachenkönig wusste bald nicht mehr, wen er noch als passenden Bräutigam vorschlagen könnte.
Er fragte sie: „Liebste Tochter, was für einen Bräutigam wünschst du dir denn?“
„Ach, Vater“ antwortete die Tochter, „ich möchte keinen reichen Bräutigam mit vielen Schätzen und brauche auch keinen mit großer Macht, ich möchte einen hilfsbereiten, mutigen Mann.“
Da erließ der Drachenkönig den Befehl, alle seine Beamten sollten sich auf die Suche nach so einem Bräutigam begeben.
Kanzler Schildkröte schlug einen Bräutigam vor, aber die Tochter des Drachenkönigs war nicht mit ihm einverstanden.
Marschall Krabbe empfahl einen Bräutigam, aber der Tochter des Drachenkönigs gefiel er nicht.
Eines Tages kam General Aal von einem Streifzug durch die Flüsse, die ins Ostmeer münden zurück und sagte: „Es gibt einen Mann, wie ihn die Prinzessin wünscht. Er heißt A´örl und wohnt am Fuße eines Berges an einer Flussbiegung. Er ist weithin bekannt als hilfsbereiter und mutiger Mann. Seine Eltern sind beide schon tot, er ist arm und noch nicht verheiratet. Er lebt zusammen mit seinem älteren Bruder von der Jagd.“
Als die Tochter des Drachenkönigs das hörte, schloss sie die Augen und lächelte.
Der Drachenkönig aber sprach:“ Tochter, wir wissen nicht, ob er wirklich hilfsbereit und mutig ist und er ist ein Mensch und gehört nicht zum Meervolk wie wir, wie kannst du ihn da heiraten?“
Als die Tochter sah, dass der Vater nicht einverstanden war, wurde sie sehr, sehr traurig.
Sie kämmte sie sich nicht mehr, schminkte sich nicht mehr, blieb im Bett und stand nicht mehr auf.
Der Drachenkönig wusste nicht ein noch aus und war sehr besorgt.
Da hatte der Hofberater Languste einen Plan, wie sie A´örl prüfen könnten und sofort wurden der Drachenkönig und seine Tochter wieder froh.
A´örl hatte in der Nacht einen Traum. Ihm träumte, ein weiser alter Mann sagte zu ihm: „A´örl, am Flussufer sitzt ein Mädchen, geh hin zu ihr und bitte sie, deine Frau zu werden!“
A´örl wurde vor Freude wach und erzählte sein Traum dem älteren Bruder Ada.
Ada aber antwortete: „Träume sind Schäume! Denk nicht so dummes Zeug und schlaf!“, denn er wurde neidisch auf seinen Bruder.
A´örl schlief wieder ein, aber Ada stand leise auf und lief schnell zum Flussufer. Doch A´örl wurde wieder wach und sah, dass Ada verschwunden war.
Er dachte: „War der Traum vielleicht doch wahr?“, schlüpfte schnell in seine Kleider und lief zum Flussufer.
Da stand Ada schon. Der runde Mond hing hoch am Himmel, ein leichter Wind wehte, und auf dem Fluss blitzten tausende silbrige Strahlen.
Und wirklich, am Ufer saß ein junges Mädchen auf einem Stein und ihr langes Haar hing ins Wasser hinab.
Das Mädchen war wunderschön. Ada und A´örl gingen zu ihr und jeder bat sie, seine Frau zu werden.
Das Mädchen fragte: „Welchen von euch soll ich nehmen? Wer von euch ist der mutigere und hilfreichere?
Ada und A´örl antworteten beide: „ Ich!“
„ Gut!“ sagte das Mädchen. „Der mutigere und hilfreichere soll mir eine leuchtende Perle bringen. Wer sie bringt, den heirate ich.“
„Mädchen, wo finden wir die leuchtende Perle?“ fragten Ada und A´örl.
„Die leuchtende Perle befindet sich im Palast des Drachenkönigs auf dem Grunde des Ostmeeres. Ich gebe jedem von euch eine wasserteilende Haarnadel, die euch den Weg dorthin ermöglicht.“ Damit reichte sie jedem Bruder eine kostbare Haarnadel.
Die Brüder verbeugten sich vor dem Mädchen und gingen.
Aber wo lag das Ostmeer? Keiner von ihnen war je dort gewesen. Wie weit war es dorthin? Sie wusste es nicht.
Ada besorgte sich ein Pferd, stieg auf und ritt zur Großen Straße. A´örl ging zu Fuß den kleinen Pfad am Fluss entlang.
Viele Tage waren sie unterwegs.
Eines Tages kam Ada in ein Dorf, wo eine große Überschwemmung herrschte. Die Menschen waren in großer Not. Sie versuchten, aus den Fluten zu retten, was sie nur ergreifen konnten.
Die Alten sagten: „ Zu unserer Rettung müsste jemand zum Drachenkönig gehen und die goldene Kelle holen. Nur mit der goldenen Kelle können wir das Wasser abschöpfen.“
Aber wer konnte zum Drachenkönig gehen, um die goldene Kelle zu holen?
Als Ada die Leute sagen hörte, sie wollten jemanden zum Drachenkönig schicken, rief er: „ Ich bin unterwegs zum Drachenkönig. Wenn ihr mir zu Essen gebt, bringe ich euch die goldene Kelle mit!“
Die Leute im Dorfe freuten sich, als sie das hörten. Sie gaben Ada ihre ganzen Vorräte mit. Außerdem brachten sie ihn in einem Boot über den Fluss.
Nach ein paar Tagen kam auch A´örl in das Dorf. Auch sein Mundvorrat war längst erschöpft. Als er hier die Überschwemmung sah, war er sehr betroffen Mutig kämpfte er gegen die Fluten und half den Leuten, ihre Sachen zu bergen.
Auch er hörte wie sie erzählten, dass man mit der goldenen Kelle des Drachenkönigs das Hochwasser abschöpfen könnte. Da sagte er: „Ich werde die goldene Kelle für euch holen!“
Alle wunderten sich, dass schon wider jemand zum Drachenkönig wollte. Sie baten ihn. „ Bring uns die goldene Kelle, Bruder! Aber vergiß es nicht!“
A´örl sprach: „Ich vergesse es nicht, Brüder! Wenn ich ins Meer hinab komme, hole ich sie auf jeden Fall für euch!“
Sie wollten ihn noch mit dem Boot über den Fluss bringen, aber A´örl sprang ins Wasser und schwamm hinüber.
Er wanderte und wanderte, bis er ans Ostmeer kam, da stand Ada schon lange am Strand und sah auf das tosende Meer. Er stand da mit ängstlichem Herzen und traute sich nicht in das wogende Wasser.
Als nun A´örl kam, sagte Ada: „Geh du als erster!“
A´örl nahm die wasserteilende Haarnadel in die Hand und stieg in die wütende Brandung.
Da teilte sich das tosende Meer und gab einen Gang in die Tiefe frei. Ada stieg vom Pferd, machte die Augen zu und folgte A´örl auf den Meeresgrund. Als sie endlich an das Palasttor kamen, wurden sie sogleich zum Drachenkönig gebracht. Der Drachenkönig freute sich, als er sie sah und führte sie zu seiner Schatzkammer.
„ Nehmt euch was ihr wollt!“ sagte er. „ Aber jeder darf nur eine Sache nehmen!“
In der Schatzkammer blitzte und funkelte es in allen Farben. An den Wänden, auf den Tischen, überall sah man die schönsten Kostbarkeiten. Ada dachte nur daran, das Mädchen vom Flussufer zur Frau zu bekommen, darum suchte er sich die allergrößte Perle aus. Der goldene Glanz der Perle blendete die Augen, der ganze Raum war strahlend hell davon. Diese Perle steckte er in seinen Beutel.
Aber damit war er nicht zufrieden. Als er die Goldbarren sah, wollte er Goldbarren; als er die Jadezepter sah, wollte er Jadezepter. Alles wollte er haben und der Drachenkönig wies ihn aus der Schatzkammer hinaus.
Als A´örl in die Schatzkammer trat, sah auch er die leuchtenden Perlen. Ach, wie gern hätte er unter ihnen nach der Perle gesucht, die am meisten leuchtet und glänzt, weil er sich das schöne Mädchen vom Fluss so sehr zu Frau wünschte. Aber dann dachte er an die Leute in ihrer Not und sein Versprechen, die goldene Kelle zu bringen.
Schweren Herzens bat er um die goldene Kelle und ging wieder hinaus.
Der Drachenkönig führte sie aus dem Meer hinaus.
Als Ada am Ufer war, stieg er auf sein Pferd, zog ihm die Peitsche über und stürmte davon. A´örl machte sich wieder zu Fuß auf den Weg.
Ada kam in das überschwemmte Dorf und das Wasser war noch immer nicht zurückgegangen. Viele Saaten waren schon verwüstet und viele Häuser eingestürzt. Als die Leute ihn erblickt hatten, umringten sie ihn und fragten nach der goldenen Kelle.
„Der Drachenkönig wollte sie mir nicht geben“ log Ada. „Ich konnte nichts machen.“ Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt schnell davon.
Als A´örl in das Dorf kam, rief er den Leuten zu: „Kommt her, Brüder! Ich habe die goldene Kelle gebracht!“
Wie freuten sich die Menschen da! A´örl nahm die goldene Kelle und begannen damit zu schöpfen. Nach dem ersten Mal standen die Häuser wieder trocken, nach dem zweiten Mal war das Wasser von den Feldern verschwunden, und nach dem dritten Mal war die ganze Ebene wieder frei.
Als das Wasser verschwunden war, lag eine große Muschel am Boden. Die Leute machten sie auf und es war eine große schwarze Perle darin.
Sie gaben sie A´örl und sagten dazu. „Wir haben nichts anderes um dir zu danken. Behalte die Perle zur Erinnerung!“
A´örl dankte, steckte die Perle in seinen Beutel und zog weiter.
Als sein Bruder Ada zu hause war, ging er gleich ans Flussufer und suchte das Mädchen. Dann holte er die glänzende Perle hervor, nahm sie mit beiden Händen und hielt sie dem Mädchen hin.
Er sagte: „Hier ist die leuchtende Perle, jetzt werde meine Frau!“
Aber das Mädchen sprach; „ Ob die Perle echt ist, werden wir am Abend sehen!“
Am Abend kam Ada wieder ans Flussufer und nahm die Perle aus dem Beutel.
Aber was war das? Warum leuchtete die Perle jetzt nicht? Ada kamen vor Aufregung die Tränen. Wütend versetzte er der Perle einen Fußtritt, sie ging entzwei und eine stinkende Flüssigkeit lief heraus.
Zornig lief er wieder nach Hause.
Ein paar Tagen später kam auch A´örl nach Hause. Traurig ging er zu dem Mädchen und sagte mit gesenktem Kopf: „Verzeih mir, Mädchen! Ich habe die leuchtende Perle nicht bringen können.“
„Und was hast du in deinem Beutel?“ fragte das Mädchen.
„Ach“ sagte A´örl, „ das ist eine schwarze Perle, die mir die Leute geschenkt haben.“
Damit nahm er die Perle heraus. Sie war stumpf und schwarz und hatte kein bisschen Glanz.
„Ha“ sagte Ada höhnisch, der seinem Bruder gefolgt war „ Da leuchten ja eher die Steine am Ufer als diese Perle!“
Aber das Mädchen sagte: „ Ob die Perle echt ist, werden wir am Abend sehen!“
Es wurde Abend. A´örl machte am Flussufer den Beutel auf und holte die Perle wieder hervor.
Ach, war sie plötzlich schön! Er hielt sie in der Hand, und es sah aus, als ob er den hellen Mond in der Hand hielt.
Das Mädchen nahm A´örl die Perle ab und warf sie hoch in die Luft. Da blitzte sie so hell auf, dass Ada die Augen davor schließen musste.
Als er die Augen wieder öffnete, ragte in dem silbernen Licht ein goldener Palast auf, und die leuchtende Perle steckte hoch auf dem First seines Daches. In kostbare Gewänder gekleidet gingen das Mädchen und A´örl Hand in Hand in dem Palast .
Ada lief hinterher, aber als er an das Palasttor kam, ließen ihn die Torhüter nicht hinein.