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RE: Was die Erde fordert - Georgien

in russische und georgische Märchen 09.07.2007 13:39
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

Was die Erde fordert
ein georgisches Märchen


Es war einmal eine Witwe, die hatte einen Jungen. Dieser wuchs heran und sah, dass außer ihm alle einen Vater hatten. Das Kind ließ der Mutter keine Ruhe: »Mutter, alle haben einen Vater, warum habe ich keinen? « Die Mutter sagte: »Er ist gestorben, Kind! « »Dann kommt er nicht wieder? Was ist denn der Tod? « fragte das Kind.
»Er kommt nicht wieder, Kind, aber wir werden zu ihm gehen. Dem Tod kann niemand entgehen, wir alle müssen zu Erde werden und sterben! « »Ich habe Gott nicht gebeten, mich zu erschaffen. Aber wenn er mich erschaffen hat, weshalb sollte er mich dann töten? « sagte der Junge. »Ich will einen Ort suchen wo es keinen Tod gibt! «
Die Mutter versuchte ihn aufzuhalten, aber er ließ sich diesen Gedanken nicht ausreden.
Er zog durch die ganze Welt. Wo er hinkam, fragte er: »Gibt es hier den Tod? « Überall hörte er nur die eine Antwort: Ja. Da wurde er traurig. Es gab also keinen Ort, wo es den Tod nicht gegeben hätte. Damals wurde er gerade zwanzig Jahre alt.
Einmal kam er auch auf eine Ebene. Weit vor sich erblickte er einen Hirsch, dessen Geweih bis an die Wolken reichte.
Der junge Mann näherte sich dem Tier, denn sein Geweih gefiel ihm sehr, und er fragte: »Ehre deinem Erzeuger, kennst du ein Land, wo es den Tod nicht gibt? « Der Hirsch entgegnete: »Ich bin ein Bote Gottes und erfülle Gottes Gesetz. Solange mein Geweih den Himmel nicht berührt, werde ich leben. Stößt es an den Himmel, muss auch ich sterben. Wenn du willst, bleibe bei mir. Solange ich lebe, wirst auch du leben 1« Der junge Mann erwiderte: »Wenn ich leben will, muss ich immer leben. Sterben kann ich auch, ohne hier herzukommen. «» Der junge Mann machte sich wieder auf den Weg. Er zog durch Wiesen, Felder, Wälder und über Felsen, bis er an eine Schlucht gelangte. Sie bestand nur aus steilem Gefels und war so tief, dass kein Auge bis zum Grund blicken konnte. Am Rande der Schlucht saß ein Rabe auf einem Felsen und ließ seinen Kot in die Schlucht fallen. Dieser Rabe war ein Bote Gottes. Der junge Mann fragte den Raben: »Kennst du ein Land, wo es den Tod nicht gibt? « Der Rabe antwortete: »Gott hat mir so lange Leben versprochen, bis ich die Schlucht mit meinem Kot gefüllt habe. Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben und so lange leben, bis auch ich sterbe. Wir brauchen uns um nichts zu sorgen, alles steht für uns bereit! « Der junge Mann blickte in den Abgrund, aber seine Tiefe erschien ihm zu gering. Irgendetwas in seinem Inneren trieb ihn weiter.
So trennte er sich von dem Raben, ließ das Festland hinter sich und begab sich an die Küste des Meeres. Er befuhr das Meer in alle Richtungen. Zwei Tage war er unterwegs, aber er traf niemanden. Am dritten Tag erblickte er in der Ferne einen gleißenden Spiegel. Als der junge Mann näher kam, sah er, dass es ein Haus aus Glas war.
Der junge Mann ging um das Haus herum, konnte aber nirgends eine Tür finden. Schließlich entdeckte er an einer Stelle einen kleinen Strich. Er trat näher und fand eine Tür, öffnete sie und ging hinein. Im Innern des Hauses lag ein Mädchen, das war so schön, dass die

Sonne sie um ihre Schönheit beneidete. Dem jungen Mann gefiel das Mädchen, und ihr gefiel der Mann. Er fragte sie: »Schöne, ich bin vor dem Tod geflohen. Kennst du einen Ort, wo es den Tod nicht gibt? « Sie antwortete: »So einen Ort gibt es nicht. Warum suchst du diesen Ort, bleib bei mir! « Der Mann entgegnete jedoch: »Nicht deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich bin hier hergekommen, um einen Ort zu finden, wo es den Tod nicht gibt! « »Was die Erde fordert, musst du ihr geben. Du könntest dich ja doch nicht an die Unsterblichkeit gewöhnen. Sage mir, wie alt mag ich sein? « fragte das schöne Mädchen.
Der junge Mann sah sie an: Ihre eben erblühte Brust, ihre rosenfarbenen Wangen waren so wunderschön, dass er den Tod für einen Augenblick vergaß, und er sagte: »Du kannst höchstens fünfzehn Jahre alt sein! « »Nein«, antwortete sie, »ich bin am ersten Tag der Schöpfung entstanden, und seitdem habe ich mich nicht verändert. Ich heiße Turpa, die Schöne, und altere nicht. Ich werde immer so sein und auch nicht sterben. Du könntest hier bei mir bleiben, aber du wirst dich nicht daran gewöhnen können, die Erde wird dich zurückrufen! «
Der junge Mann versprach ihr, niemals von ihr Fortzugehen. Und so begannen sie gemeinsam zu leben. Die Jahre verflogen wie Augenblicke. Vieles änderte sich, viele starben, viele wurden zu Erde, viele wurden geboren, die Erde änderte ihr Gesicht, allem war dies anzumerken. Nur der junge Mann merkte nicht, wie die Zeit verflog. Das Mädchen war noch immer so schön, und der junge Mann war noch ebenso jung. Es vergingen tausend Jahre. Der junge Mann bekam Sehnsucht nach seinem Land, und es drängte ihn, seine Mutter und seine Verwandten zu sehen. Er sagte zu dem
Mädchen: »Ich muss gehen und meine Mutter und meine Verwandten sehen! «
Sie ließ ihn nicht fort: »Nicht einmal ihre Knochen werden mehr da sein! «
Der junge Mann sagte: »Was redest du da? Drei, vier Tage werden vergangen sein, seit ich gekommen bin. Wann sollen sie denn gestorben sein? « »Habe ich dir nicht gesagt, dass die Erde das Ihre fordert? Gut, geh nur. An allem, was dir geschieht, trägst du selbst die Schuld! « entgegnete das Mädchen. Drei Äpfel gab sie ihm: »Wenn du ankommst, dann iss diese Äpfel! «
Der junge Mann brach auf, die ihm bekannten Orte aufzusuchen. Zuerst gelangte er an die bodenlose Schlucht, der Rabe war längst gestorben. Die Schlucht war bis zum Rand gefüllt, und er selbst hockte vertrocknet auf einer Felsenspitze.
Dem jungen Mann wurde es schwarz vor Augen. Er erinnerte sich an die Worte des Mädchens und wollte umkehren. Aber die Erde, das Schicksal ließen es nicht zu. So ging er weiter.
Nun gelangte er zu jener Ebene. Als er sie zur Hälfte durchquert hatte, sah er, dass das Hirschgeweih den Himmel berührte. Der Hirsch war schon lange tot. Jetzt war der junge Mann überzeugt, dass wirklich eine lange Zeit vergangen war.
Trotzdem zog es ihn seinem Land entgegen. Er ging hin, traf jedoch keinen Bekannten mehr. Er fragte nach seiner Mutter, aber niemand konnte sich auch nur an sie erinnern.
Schließlich fand er einen alten Mann. Auch ihn fragte er nach seiner Mutter und erzählte ihm seine Geschichte. Aber der Alte glaubte sie ihm nicht, denn die Frau hatte, wie seine Ahnen erzählt hatten, vor tausend Jahren gelebt. Wie sollte ihr Sohn jetzt noch am Leben sein!
Auch das Volk glaubte ihm nicht und meinte, er sei aus dem Jenseits geschickt.
Der Ruf verbreitete sich in den Dörfern, und die Leute umlagerten den jungen Mann wie Heuschrecken, um ihn zu sehen.
Endlich gelangte er an jene Stelle, wo einst ihr Haus gestanden hatte. Die Mauern, auf denen gelbes Moos wuchs, ragten noch aus dem Boden. Der junge Mann erinnerte sich an seine Mutter und an seine Kindheit, und er wurde traurig. Da dachte er: >Ich will einen von den Äpfeln essen. <
Er nahm ihn heraus, aß ihn auf, und im selben Augenblick hing ihm ein zottiger Bart bis zum Gürtel. Er aß den zweiten, und die Knie versagten ihm. Er konnte den Arm nicht mehr heben, er war lahm und greis geworden. Da war er sich selbst zuwider. In der Nähe sah er ein Kind, das rief er: »Komm her, in der Tasche habe ich einen Apfel, hol ihn mir heraus! « Das Kind holte ihm den Apfel hervor, der Greis aß ihn und hauchte seine Seele aus.
Das Dorf geleitete ihn zur letzten Ruhe und begrub ihn in Ehren.


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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