Frau Holle.Die Deutung von Heinrich Rombach.
Frau Holle
Das Prinzip der Unscheinbarkeit macht sich in der unscheinbaren Gestalt des Märchens geltend. So bei Frau Holle. Holle heißt soviel wie Holde, Huld, Gnade. „Begnadung“ ist die religiöse Form des hermetischen Prinzips. „Begabung“ ist seine psychologische und „Genie“ ist seine künstlerische Form. Alle dies Formen haben dieselbe Unverständlichkeit, und sie stellen für das Alltagsverständnis dasselbe Problem dar. Sie sind weder als Fremdgegebenheiten noch als Selbstgegebenheiten faßbar. Die „Begnadung“ liegt nicht im Vermögen und Besitz des Menschen. Er verfügt nicht darüber. Es ist nicht eine Naturanlage, kein verläßliches Verfügenkönnen, das der Begnadete nur noch zur Anwendung zu bringen hätte, sondern es ist eine Kraft, die er aus dem Augenblicke zu gewinnen, für den konkreten Fall zu finden und durch das Hinzukommen von Glück zu realisieren hat. „Glück“ ist nur ein anderes Wort für Hermes.
Glück hat aber nur derjenige, der es „verdient“. Aber keiner kann es sich verdienen. Man kommt da nicht hin. Es führt kein Weg zu Hermes – aber im Grunde führen alle Wege durch ihn hindurch. Er ist ja der Gott des Weges – aber welchen „Weges“? Wer „Genie“ hat, weiß dies sehr wohl, aber er weiß nicht, woher er es hat und wie lange; mal hat er es, mal hat er es nicht. Glaubt er zu wissen, daß er es hat, hat er es nicht, aber nun umgekehrt daran zu zweifeln, hilft auch nicht. Der Volksmund bringt dies durch die simple Formel zum Ausdruck: „Man hat es, oder man hat es nicht.“ Genau dies ist Hermes.
Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun truge es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war; da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte, und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot, das Brot aber rief: „Ach zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn' ich, ich bin längst ausgebacken.“ Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihm zu: „Ach schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel hielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war, und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm Angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: „Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir; wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir's gut gehen. Du mußt nur achtgeben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt, ich bin die Frau Holle.“ Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in den Dienst.
Aus: Frau Holle, nach den Brüdern Grimm
Frau Holle verteilt Lohn und Strafe, aber nicht nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, sondern nach dem charismatischen Prinzip, nach dem hermetischen Prinzip. Ihre Huld ist ein Verdienst, aber nur ein Verdienst derer, die nicht danach trachten.
So der Unterschied von Goldmarie und Pechmarie. Wie zuvor gezeigt, gelangt Goldmarie durch einen Absturz im Brunnenschacht in eine Unterwelt, von der niemand Kenntnis hatte. In der Unterwelt haben die Dinge Stimmen. So ruft das Brot aus dem Ofen: „Ach, zieh mich raus.“ Goldmarie ist nun die Bescheidene, die nicht selbst etwas will, sondern den „Willen“ der Dinge tut. Sie tut das, was „an der Zeit“ und was „am Platze“ ist; sie tut das, was die Sachen sind. Dadurch gelingt ihr alles. Sie ist nicht eigentlich „fleißig“; wer tut, was die Dinge wollen, bei dem geht alles „von selbst“. Das Märchen verkennt dies, es blendet Betulichkeit auf. Wir lassen uns aber nicht irreführen.
Gelingen, das ist das hermetische Phänomen, und Gelingen bedeutet eine Sache aus sich selbst heraus zu dem führen, wohin sie selber will. Dieses Führen hat die Unterstützung der Sachen, den ganzen Hintergrund der Wirklichkeit zum Helfer. Wie könnte es da mißlingen? Was könnte dem widerstehen? Die Übermacht des hermetischen Prinzips ist die schöpferische Sachlichkeit, in der die Subjektivität untergegangen ist, oder das sachliche Schöpfertum, die Kon-kreativität, in der Mensch und Sache zu einem einzigen Hervorgang zusammengehen. Der hermetische Mensch ist gleichsam ausgelöscht. Es gibt ihn nicht als den selbstbewußten Ausgangspunkt eigener Aktionen. Er ist nichts als die Findung des Zentralwillens einer Weltsituation, und er springt so in deren Mitte hinein, daß er die Sachen nur noch zu „rufen“ braucht, damit sie auch schon geschehen. „Wer den Dingen ihr eigenes Lied vorspielt, der bringt sie zum Tanzen.“ Die Macht der Hermetik ist der Tanz der Dinge.
Mande
P.S.:
Wer Heinrich Rombach nicht kennt, kann ihn im Internet finden. Unter ´Heinrich Rombach, "Welt und Gegenwelt".´
Unerlässlich für Märchen-, und Mythenfreunde.
[ Editiert von mande am 25.12.06 13:21 ]