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Was ist ein Mondheld?
Also zunächst einmal:
Unter einem Erzähltypus oder einem Märchentypus verstehe ich das Grundmuster hinter einer Geschichte.
Wenn wir verschiedenen Haustieren begegnen, erkennen wir ja spontan, ob es Hunde sind - meistens zumindest - mal abgesehen von manchen Schoßhunden, die man bei flüchtiger Betrachtung auch für ein ein Bisschen groß geratenes Meerschweinchen halten könnte
Welche Hunde zu einer Rasse gehören können wir meistens auch erkennen, ohne den "Stammbaum" zu kennen. Aber man kann die Hunde auch nach anderen Gesichtspunkten unterscheiden. Z.B. zu welchem Zweck die Rasse gezüchtet wurde. Wie Groß sie sind. Welche Ohrform sie haben und welche Fellzeichnung. Und plötzlich haben verschiedene Rassen, die augenscheinlich nicht viel Ähnlichkeit haben, mehr miteinander zu tun als andere.
Meine Unterscheidungsart hinsichtlich des Typus von Geschichten geht auf die "Handlungsstruktur" zurück und nicht auf die Symbolik. Die meisten von uns - auch ich! - lassen sich leicht von der Symbolik beeindrucken. Und wenn in drei Märchen in zwei Fällen von drei Schwestern, in einem von zwei alten Männern berichtet wird, stellen wir gewöhnlich die mit den Schwestern zusammen und grenzen das mit den ALten aus.
Was ist aber, wenn die beiden Alten genau dasselbe tun wie drei der Schwestern, während die Geschichten der anderen Schwestern ganz anders verläuft?
Der Mondheld ist ein Märchentypus der in ganz verschiedenen Mythen und Märchen auftritt. Die Grundkonstellation der Symbolik ist mitunter sehr unterschiedlich. Was auffällt und was den Geschichten gemeinsam ist, dass es mehr als einen Held gibt. Und dass es uns schwerfällt zu sagen, wer der "eigentliche" Held der Geschichte ist.
Z.B. der treue Johannes! Wer ist der Held? Der König oder der treue Diener?
Z.B. der gestiefelte Kater! Wer ist der Held? Der Kater oder der Müllersbursche?
In beiden Fällen würden wir - glaub ich - eher den Helfer als Helden wahrnehmen! Aber ohne den Anderen wäre die Handlung völlig sinnfrei...
Der Mondheld ist also ein Geschichtenmuster, welches zwei Helden kennt, die grundsätzlich zusammenhängen.
So das zum Anfang
Christoph
@ Sabine: Was ist eine Kindmärchenleserin?????
Nun eine kleine Fortsetzung zum Mondheld:
Die zunächst augenfälligste Variante des Mondhelden war die:
Ein Held verliebt sich auf die Distanz in eine wunderschöne Frau und wird vor Liebeskummer krank. Er weiß nicht, wie er zu ihr gelangen soll. Er weiß nur, dass er ohne sie nicht mehr leben kann. Er wird immer hinfälliger. Ein Anderer kommt ins Spiel: Ein Bruder oder Ziehbruder oder Freund oder Diener, der immer in einem untergeordneten Verhältnis zu dem ersten steht. Er selber will die Frau nicht, weiß aber wie es gelingen kann. Die beiden kommen zu einem Handel: Der Andere - ich nenne ihn erstmal Bruder - macht sich auf den Weg, um stellvertretend die Braut zu werben, oder sie verwandeln die Gestalt, verkleiden sich oder verstecken sich - wie auch immer Der Bruder gelangt als "Anderer" zur Braut und ihm gelingt die Werbung. Dabei verhält er sich sehr ehrenhaft. Z.B. legt er ein Schwert zwischen sich und die Braut, wenn er mit ihr das Nachtlager teilen muss.
Doch der Erste, der verliebte Held, wird eifersüchtig und tötet den Bruder. Dann erfährt er von dessen Treue und Unschuld und durch Zauber oder Opfer gelingt die Wiederbelebung.
Soweit die Grundstruktur der "Liebesgeschichte" des Mondhelden.
Eine Variante ist z.B. der schon erwähnte treue Johannes:
Der König verliebt sich in das Bild der Prinzessin vom goldenen Dache und wird krank. Sein Diener macht sich mit ihm auf um für ihn dei Braut zu werben. Sie verkleiden sich als Händler und locken die Prinzessin auf ihr Schiff. Sie entführen sie. Schließlich fügt sie sich in ihr Schicksal. Nachts hört der Johannes die Vorhersage der Vögel von den drohenden Gefahren. Er wendet die Gefahren ab. Der König aber beginnt bei der letzten Rettung (Saugen an der Brust der Prinzessin) an der Treue des Dieners zu zweifeln. Er verurteilt den Johannes zum Tod, doch der erzählt ihm alles und wird zu Stein. Lange beweint der König seinen treuen Diener bis er schließlich durch das Opfer seiner Kinder den Johannes erlösen kann.
Dazu gibt es viele Varianten und Parallelen. Symbolisch gehen sie mitunter stark auseinander. Doch die Handlungsfolge (Fernliebe, stellvertretende Werbung, Treuebeweis, Zweifel an der Treue, Tod/Versteinerung, Erlösung durch Opfer oder Magie) ändert sich wenig!
So: Und was hat das alles mit dem Mond zu tun? Ganz einfach:
Bei Vollmond verliebt sich der untergehende Mond in die aufgehende Sonne. Und doch weiß der lichte Mond, dass er nicht zu der Frau seines Lebens gelangen kann. Er wird "krank", er entrundet zunehmend und nimmt ab. Dann tritt irgendwann sein schwarzer Bruder - die Schattenseite des Mondes auf und der kann sich immer weiter der Sonne nähern bis er schießlich 3 Tage lang in ihren "Bett" verschwindet. Kehrt der Mond zurück, dann schöpft der lichte Mond neue Kraft und doch beginnt der lichte den dunkeln aufzufressen: Der Dunkle verschwindet. Bis schließlich wieder Vollmond ist, nur noch der lichte Mond zählt. Aber dann erweckt der lichte Mond (wieder abnehmend) den dunkeln zu neuem Leben...
Die Naturmythologie ist natürlich wissenschaftlich sehr problematisch. Aber bei genauer Handlungsanalyse der verschiedenen Varianten gewinnt man viele Zusammenhänge, die die Naturmythologie - so anschaulich sie ist - schließlich entbehrlich macht.
Der Mondheld ist also das Muster nach dem diese Geschichten verlaufen - quasi eine Nacherzählung der Lunation - des Lichtwechsel des Mondes - in einer menschlichen Geschichte.
Eine Dreiecksgeschichte um Liebe, Sehnsucht, Verlangen, der Unmöglichkeit von Annäherung, der An-Verwandlung und Verstellung, die am Anfang jeder Beziehung steht, der Spannung von Treue und Misstrauen und Eifersucht.
Darum geht der Mondheld...
Wenn man dann noch genauer schaut: Es ist das Spannungsverhältnis zwischen Geschwistern - es sind in den Mythen nicht umsonst Brüder, die um die Liebe ihrer Schwester buhlen...
Aber dazu ein andermal mehr...
Christoph
RE: Was ist ein Mondheld?
in Mondheld 20.12.2006 13:47von HolySmokes • | 7.719 Beiträge | 7719 Punkte
Es ist ganz schön interessant einmal, sozusagen, 'hinter die Kulissen zu blicken', wenn ich solche Dinge lerne / erfahre, frage ich mich wohl, was die Welt sonst noch zu bieten hat, ohne das wir es wissen.
Um jetzt aber mal auf das Thema einzugehen (und hoffentlich falle ich mit meiner Frage nicht zu unangenehm auf): Wie kann man es vermeiden, dass sich dieser Typus 'abnutzt'?
Und schließlich erlaube ich mir einfach mal, Dich an dieser Stelle zu begrüßen, Mondheld, schön, dass Du hierher gefunden hast.
Ja, moin, Christine / HolySmokes!
Nein, negativ auffallen tust Du nicht. Es ist von meiner Seite eher missverständlich zu sagen, dass sich das Muster (der Typus) "hinter" der Geschichte befinde. Das legt ein wenig die Idee nahe, dass jemand am Anfang eine Stempel aus der Kartoffel geschnitzt hat und dann viele viele Abdrücke macht und irgendwann ist der Abdruck hin...
Ein Typus/Muster ist aber etwas anderes: Wir alle haben als Typus eines Vogels einen kleinen Singvogel, groß wie ein Spatz, etwas hübscher gefiedert - ähnlich einer Meise -, im Kopf. Keinen Adler, keinen Pinguin, keine Ente, kein Huhn und auch keinen Raben... Für jeden Typus gibt es Subtypen: Eben z.B. Wasservögel, Greifvögel, Singvögel, ...
Der Typus hilft uns auch einen unbekannten Vogel sogleich einzusortieren: Begegnet uns zum ersten mal eine Schwanzmeise - die tummeln sich gerade bei uns im Garten - erkenne ich an der Form sofort: Das ist ein Vogel, kleiner Singvogel. Am Verhalten: es muss wohl eine Meise sein (kann kopfüber an Meisenknödeln landen) oder ein wenig wie ein Stelzvogel (wackelt auffällig mit dem Schwanz).
So dann ist es nicht mehr schwer den Vogel zuzuordnen...
Ein Märchentypus ist nicht das Drehbuch, nach dem ein Märchen verläuft. Er wird nicht abgenutzt durch kopieren. Jeder neue Vertreter, der mir begegnet, hilft mir, besser den Typus in seinem Kern und mit all seinen Varianten zu verstehen. Und da lernt man nie aus: Denn in den Randbezirken des Typus gibt es Übergänge zu allen möglichen anderen Typen...
Der Typus des Mondhelden ist nicht abgenutzt. Es gibt Zeiten, in denen Menschen sich davon angesprochen fühlen, und andere, wo die Menschen eher desinteressiert reagieren. Momentan ist es eher ansprechend - meine Erfahrung.
Liebe Grüße
Christoph
RE: Was ist ein Mondheld?
in Mondheld 22.12.2006 21:14von Enibas • | 4.111 Beiträge | 4120 Punkte
Hallo Christoph,
das Wort das ich erwähnte, das vergiss ganz schnell. Es ist eine eigene Kreation (überkommt mich manchmal)und sollte lediglich ausdrücken, dass ich seit Jahren keine Märchen gelesen habe. Als Kind habe ich sie "gefressen", aber das ist lange her.
Eine "dumme" Frage von mir, da sich Deine Darlegungen beinahe wissenschaftlich lesen: Kann der Kenner aus jedem Märchen etwas herauslesen, den jeweiligen Typus verstehen? Sind die bekannten Märchen tatsächlich mit diesen Hintegründen geschrieben worden? Nach einem Muster?
Ich frage aus dem Grund, weil ich beinahe täglich sehe, dass Anfänger beim Schreiben, z.B. von Kurzgeschichten, davon ausgehen, dass die Geschichte "A" eine action story darstellt und die Geschichte "B" eine Satire. Die Schreiber gehen davon aus - doch die Kriterien die eingehalten werden müssten, sind nicht vorhanden!
Wie ist das bei den Märchenschreibern, haben die jeweils ein bestimmtes Muster eingehalten, waren sie in diesem "Metier" perfekt? Oder gibt es Märchen wo der Kenner sagt: Nein, das stimmt Vorne und Hinten nicht?
Moin moin, Sabine,
ich hoffe, dass Du Märchen lediglich gefressen hast im Sinne von übermäßig genossen und nicht im Sinne "das habe ich gefressen", das kann mir gestohlen bleiben... ;-) Aber ich nehm mal an, Du würdest nicht hier verweilen dann...
So, so ich hör mich also nur beinah wissenschaftlich an - da muss ich dann wohl noch dran arbeiten *lol*
Zu Deiner "dummen" Frage - Du weißt ja, es gibt keine dumme Fragen!:
Also Dein Gedanke klingt verführerisch aber leider funktioniert es so nicht. Ein "Typus" in dem Sinne, wie ich ihn verwende, ist ein Wahrnehmungsmuster, welches unsere Wahrnehmung strukturiert, und keine "Idee" im Sinne von Platon, die vor der Existenz sozusagen als "Urbild" vorhanden ist und nach der sich dann die Realität fügt.
Also ich kann natürlich Märchen schreiben, indem ich das allseits bekannte Wahrnehmungsmuster "Märchen" mit Bildern und Worten fülle und hoffe, dass die Menschen es beim Lesen oder Hören wiederfinden. Aber - ich glaube - dazu muss man entweder sehr naiv oder ein großer Künstler sein.
Also wenn ich Geschichten schreibe, gibt es zuerst die Geschichte und auf dem Papier (oder auf dem virtuellen Papier meines PCs) ereignet sich dann die Ausgestaltung. Und diese Geschichte erweckt dann einen bestimmten Eindruck - Vielleicht ist es ein Märchen, vielleicht eine Satire, vielleicht eine Action Story. Eventuell stimmen meine Bestimmungskriterien nicht mit denen meiner Mitmenschen oder der strengen Wissenschaft überein. Vielleicht nenne ich etwas Gedicht, was andere nicht so bezeichnen würden. Aber nach meinem Verständnis geht der Primat von der vorhandenen Geschichte aus, nicht von der Absicht des Autors, nicht von den Kategorien der Hörer oder Leser.
Apropos "Kategorien": Die meisten Wissenschaften arbeiten mit Kategorien. D.h. sie organisieren ihre Erkenntnisse und Einsichten mittels Kriterien in dem Sinne: Erfüllt eine Geschichte die Kriterien X und Y und Z so gehört sie in diese Schublade auf der "Märchen" steht. Erfüllt sie nur eines dieser Kriterien nicht, gehört es nicht hinein. Dieses Schubladen-Denken hat seine Vorzüge im Wissenschaftsbetrieb.
Aber im Alltag arbeiten wir mit "Typologien". Zum Typus Märchen gehören dort ebenfalls die Kriterien X und Y und Z. Eine Geschichte, die jedoch nur X und Y, nicht aber Z erfüllt, wird von uns spontan als ähnlich aber nicht gleich wahrgenommen. Der Vorteil: auch Geschichten, die nicht in die Schublade (Kategorie) reinpassen, können wir zu dem Typus rechnen, wenn die Ähnlichkeit zum Typus "Märchen" höher ist, als zu anderen alternativen, angrenzenden Typen.
Eine Geschichte allerdings, die weder X noch Y noch Z erfüllt, wird von uns als sehr unähnlich wahrgenommen. Auch wenn über ihr "Ein Märchen" steht, werden wir in der Tat sagen: Es stimmt hinten und vorne nicht...
Die Kriterien, die wir Märchen unterstellen, sind von der Literaturwissenschaft und anderen Wissenschaften erfasst und beschrieben worden. Z.B. Märchen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes "Erzählungen" sind, d.h. auf eine mündliche Überlieferung zurückgehen. Also wer sich ein Märchen ausdenkt tut gut daran, es nicht gleich aufzuschreiben sondern erst einmal zu erzählen und darüber wirken zu lassen. Natürlich gibt es Märchen, die nur aufgeschrieben wurden: Autoren- oder Kunstmärchen. Sie erfüllen eben ein zentrales Kriterium nicht, aber die anderen.
Andere Kriterien sind: Es sind Geschichten, die meistens von "normalen" Menschen erzählen. Dies begegnen im Laufe der Geschichte einem außermenschlichen Bereich (Riesen, Zwergen, Feen, Hexen, Menschfressern...). Märchen sind meist sehr einfach gegliedert und es kommen in aller Regel keine rückwärtigen Zeitsprünge vor. Man sagt: Ihre Darstellung ist linear. Sie halten sich nicht mit großen Beschreibungen auf, es geht mehr um die Handlungsabfolge. Charaktere sind nur selten benannt - wenn dann mit Allerweltsnamen... und so weiter...
Wie gesagt: Der strengen Wissenschaft zufolge gibt es demnach nur ganz wenige Märchen im "eigentlichen" Sinne. Schon der Froschkönig erfüllt die Kriterien nicht vollständig, wenn nämlich erst gegen Ende die Vorgeschichte erzählt wird!
Ach - das war jetzt schon wieder zu wissenschaftlich. Ich kann's nicht lassen... Sorry
Christoph
RE: Was ist ein Mondheld?
in Mondheld 07.01.2007 19:53von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Nein, es war nicht zu wissenschaftlich Christoph; und lass es bloss nicht !!!
Für viele Menschen ist der Wert eines "wirklichen" Volksmärchens erst nach Erklärungen erkennbar, zu sehr sind wir auf Raffinesse im Stil und Ausdruck erpicht, als dass der wahre Wert des einfachen, linear erzählten Märchens erkannt wird und die tiefe Ebene dahinter.
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