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#1

RE: der universale Charakter eines Märchens

in der reale Hintergrund eines Märchens 02.04.2006 14:18
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

dient den Psychologen zur archetypischen Erklärung von Verhaltensweisen und lässt sowohl einzelne Menschen als auch Interessengruppen Bestätigung ihrer Ansichten und Lebensweisen finden.
Grund dieser Annahmen ist der immer noch weit verbreitete Glaube, dass alle Grimm´schen Märchen abgeschliffene Kulte und Riten aus "grauer Vorzeit" enthalten.
Wenn es für diese Leute wichtig ist, dann ist es so richtig und ich lasse ihnen gern diese Sicht, weil sie das Märchen als Basis für ihre Philosophie ausgedeutet haben.
Der universale Charakter des Märchens lässt das eben zu.
Es hat ja wohl jeder schon in seinem Leben erlebt, dass er im Gespräch einen für ihn eher belanglosen Satz gesagt hatte, der aber für sein Gegenüber einen großen Wert hatte und Laterne über Jahre war. Nicht dass der Satz so groß und bedeutend war der da gesprochen wurde, das Denken des Gegenüber hat Großes und Bedeutendes daraus gemacht.
(Umgekehrtes hat man natürlich auch schon erlebt, man sagt was Vernünftiges und ...)
So sehe ich das auch mit den Märchenbotschaften, so mancher Sinn ist in ihnen enthalten und so mancher Sinn wird noch hinzugetan, weil die Märchenbilder eben dieses im Unbewußten des Betreffenden angesprochen haben.

[ Editiert von Administrator Gemini am 15.06.06 20:58 ]


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#2

RE: der universale Charakter eines Märchens

in der reale Hintergrund eines Märchens 18.07.2006 17:26
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

... am Beispiel Rapunzel

Ursprünglich wurden Märchen von Erwachsenen für Erwachsene erzählt, zur Unterhaltung in den Spinnstuben und anderswo. Aber warum werden sie heute dann eher den Kindern erzählt? Und warum verstehen Erwachsene die Botschaft dieser geheimnisvollen Berichte nicht mehr?

Man sollte sich bewusst machen, dass Märchen Mythen sind. Sie erzählen in verschlüsselter Form aus uralter Zeit, und, obwohl sie von jeder Generation verändert weitergegeben wurden, hat sich in ihnen ein unterbewusstes Weltbild bis heute erhalten.

Es ist wohl das Weltbild, das am ursprünglichsten ist und am ehesten der menschlichen Natur entspricht.

Es ist frei von komplizierten Gedankengebäuden und es folgt auch dem Rhythmus der äußeren Natur.

Es ist die den Menschen maximal mögliche Freiheit.


Mythen sind religiöse Texte. Doch was haben unsere Märchen mit der Religion zu tun, die in Europa vorherrscht? Nannten die Zwerge Schneewittchens Stiefmutter nicht eine 'gottlose Königin'? Betet Gretel nicht das Stossgebet: 'Ach lieber Gott, hätten uns doch die wilden Tiere im Walde gefressen.' Warum erzählt dann der/die Pfarrer/in in der Kirche keine Märchen --- oder doch?

Solche Textstellen sind nachträgliche Hinzufügungen der Gebrüder Grimm. Wilhelm Grimm haben die Märchen in einer Weise bearbeitet, dass sie den Moralvorstellungen der Biedermeierzeit entsprachen und für Kindern 'vorlesbar' wurden.
Da wird den Kindern nicht verraten, dass Rapunzel im Turm geschwängert wurde, plötzlich bekommt sie, einfach so, Zwillinge! Genau wie Maria, die unbefleckt-empfangen-Habende. Doch der Urtext enthält diese Information noch, da steht:
'So lebten sie lustig und in Freuden geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: 'Sag sie mir doch Frau Gotel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.'

Wilhelm Grimm hat diese erste Version aus den "Kinder- und Hausmärchen" in späteren Auflagen vielfach stilistisch ausgeschmückt und nach einem öffentlichen Tadel bereits 1819 den Hinweis auf Rapunzels Schwangerschaft getilgt.
Friedrich Rühs meinte über das Märchen: "Welche rechtschaffene Mutter oder Aufseherin würde ohne Erröten das Märchen von der Rapunzel einer schuldlosen Tochter erzählen können?"

In Zeiten, da Gedrucktes nicht jedem zugänglich war,
konnte Giambattista Basiles, der Mode entsprechend, dies als ungehemmte, erotische Espisode schildern.
Sie hielten leckere" Mahlzeit mit der Petersilientunke der Liebe". Eine alte Klatschbase aus der Umgebung warnt die Hexe schon bald, auf der Hut zu sein, denn Petrosinella habe sich mit einem Jüngling eingelassen. Sie argwöhnt, sie wollten schon bald gemeinsam das Haus räumen.


Ursprünge:
Das Rapunzel-Motiv ist in ganz Europa verbreitet und geht auf Volksüberlieferungen zurück. Verschiedene Elemente der Geschichte sind dem griechischen Mythos von
Demeter und Kore entliehen: "Der klasssiche Mythos von Kore-Persephone und Demeter wurde in ein Märchen über die heilige Demetra umgewandelt. Die Tochter der (Heiligen) Kore wurde von einem "bösen türkischen Zauberer" (Hades) geraubt und in einen Turm gesperrt. Ein junger Held rettete sie, kam aber dabei auf grauenvolle Weise um. Der Bösewicht zerhackte ihn und ließ die Leichenteile an der Mauer des Turms "zwischen Himmel und Erde" herunterhängen. Daraufhin erschien die heilige Demetra, geleitet von einem Storch (in der Antike ihr Totemvogel, der die Geburt symbolisiert), setzte die Leichenteile des Retters wieder zusammen und gab ihm sein Leben zurück."
(Barbara Walker)
Drei literarische Quellen jedoch, die deshalb nicht wirklich als Urtext zu verstehen sind, waren Grundlage für die Grimmsche Fassung.

Die verkürzte Bearbeitung Jacob Grimms einer Erzählung von Friedrich Schultz (1790), die ihrerseits auf die Feengeschichte "Persinette" von 1698, der Hofdame Mademoiselle de la Force [1650-1724] zurückgeht, die behauptete, die Geschichte erfunden
zu haben.

Die Märchensammlung des Giambattista Basile [1575-1632] "Das Pentameron" (1634) enthält bereits die Geschichte, in der das Mädchen Petrosinella heißt.

Die Symbole im Märchen:



Rapunzel:

Feldsalat, Teufelskralle. Die schwangere Mutter Rapunzels verfällt dem Rapunzel-Salat. Bildlich gesprochen ist sie in den Krallen des Teufels.

In den anderen Versionen ist Rapunzel "Petersilchen". Die Petersilie steht seit dem Altertum als einzige Pflanze für Tod, Unglück und gleichzeitig auch für die Liebe . Die "Petersilientunke der Liebe" nach Basile meint den schon im Mittelalter aus diesem "Hexenkraut" hergestellten und aphrodisisch wirkenden Extrakt der Pflanze. Zum angeblich wirkungsvollen Aphrodisiakum wird sie durch den anregenden Wirkstoff Apiol. Dieser ist allerdings auch "uteruserregend", was eine Schwangerschaft zum Abbruch bringt.



Haare:

Das Haar galt gewöhnlich als Träger oder Sitz zumindest eines Teils der Seele. Im Altertum besaßen Frauen ohne langes Haar keine Zauberkraft, weswegen Frauen mit abgeschnittenem Haar als ungefährlich galten. Das mittelalterliche Europa kannte eine Unzahl magischer Vorstellungen, die auf der heidnischen Bedeutung des Haares basierten. Kinderhaar blieb viele Jahre lang mit der Begründung ungeschnitten, dass sonst die Kraft des Kindes geschwächt würde. (Barbara Walker)

Turm:
Im Tarot steht der Turm für Zerstörung und umwälzende Veränderung - eine erdbebengleiche Erleuchtung und das Ende falschen Bewusstseins. Strukturen brechen zusammen, doch am Ende steht nicht der Tod, sondern höchste Glückseligkeit der Unsterblichkeit der Seele und der göttlichen Natur des Körpers. (nach Vicky Noble)
Der Turm hat damit keine phallische Bedeutung, die ihm gerne zugeschrieben wird.

Mutter und Tochter:

Diese Dualität geht auf antike Mythen wie dem von Demeter und Kore zurück. Beide sind jedoch nur Aspekte der noch viel älteren Grossen Göttin, die erst 'halbiert' und schließlich 'gedrittelt' als Trinität (Jungfrau, Mutter und Alte) Vorläuferin der christlichen Dreieinigkeit und Dreifaltigkeit zu sehen ist und damit in den mythischen Untergrund abrutschte.

Wüste:

Die Wüste erscheint auf verschiedenen Karten des Tarot. Bei den neun Scheiben ist die Wüste ein Rückzugsort, an dem eine Heilung vonstatten geht. Auch die Tochter der Scheiben geht freiwillig für eine Weile in die Abgeschiedenheit der Wüste, um dort ihre Initiation zu erhalten.


Woher kommt der Name Frau Gothel?
"Gerade, dass sie niemals als Hexe, sondern immer nur die Zauberin oder "Die Alte" und von Rapunzel "Frau Gothel" benannt wird, was mundartlich Patin bedeutet, lässt uns denken an jene im Dämmer der Geschichte liegenden Zeiten, wo die Muttergottheit für die Menschen einen überragenden Einfluss hatte."
(nach R.Geiger)

Die Namensähnlichkeit von Gothel und Gott erklärt Barbara Walker mit einem Wort aus dem Englischen:

Gossip ist ein uraltes, englisches Wort für Frauen, besonders für solche, die das mittlere Alter überschritten haben. Deutsche Übersetzungen wie Patin, Klatschweib, Gevatterin oder Waschweib treffen nur einzelne Aspekte des englischen Begriffs.

Das ursprüngliche Wort lautete godsib, "Verwandte Gottes", womit eine godmother, engl. "Patin" (wörtlich Gott-Mutter) gemeint war. In vorchristlicher Zeit galten ältere Frauen als göttlich, weil sie nach ihrer Menopause ihr "weises Blut" bei sich behielten. In christlicher Zeit war gossip die allgemeine Bezeichnung für "Patin".

Tiefenpsychologische Deutung nach Eugen Drewermann:

Er nennt das Märchen von Rapunzel einen Familienroman (nach Freud). Es ist die tragische Geschichte einer Frau, die, weil sie nicht fähig ist, (einen) ihren Mann zu lieben, sich ganz und gar auf ihre Tochter fixiert. Die negative Mutter-Kind-Beziehung, in der die Mutter das Schicksal des Kindes unbewusst programmiert, führt zu tiefen Lebenskonflikten.

Die Mutter Rapunzels und Frau Gothel sind ein und dieselbe Person, die ihr ganzes Dasein von ihrer Tochter abhängig macht. Der Mann ist seiner Frau gegenüber völlig machtlos. Er hat keinen Platz im Leben der beiden Frauen. Die Tochter, gefangen in 'Turm der Verbote' ihrer Mutter, wird aus den Fängen ihrer Mutter nur befreit werden können, wenn sie sich emanzipiert. Der Prinz, ein liebender, einfühlsamer Mann, der beharrlich an seine Geliebte glaubt, schafft es zunächst, die Verbote der Mutter zu unterwandern: Rapunzel wird schwanger. Doch auch nach der Trennung von der Mutter wirkt die negative Erziehung weiter und führt schließlich zur Trennung der Liebenden. Lange Jahre des völlig selbstständigen Lebens mit ihren Kindern versetzen Rapunzel in die Lage, die Liebe zu ihrem Mann zu/anzu- erkennen. Sie finden wieder zueinander, weil auch der Prinz nie aufgehört hat sie zu lieben.

Einen nicht nur für ihn wichtigen Schluss zieht er aus der Geschichte:


"Immer wieder, vor allem im Raum der katholischen Kirche, hört man die Meinung vertreten, das Eheversprechen zweier Brautleute sei etwas für alle Zeiten unwiderruflich Gültiges; ohne weiteres setzt man dabei voraus, dass ein solches Versprechen der Liebe und der Treue "frei und ungezwungen" zustande komme, und man vergisst dabei anscheinend vollkommen, dass es ganze Teile der eigenen Psyche gibt, die dem Bewusstsein weitgehend entzogen sind. Gerade die Wege der Liebe sind in jungen Jahren niemals frei von unbewussten Übertragungen, die, je nachdem, eine ebenso starke Bindungsenergie wie Zerstörungskraft zwischen zwei Menschen entfalten können. Die Bibel jedenfalls hat vollkommen recht, wenn sie an entscheidender Stelle meint, die Liebe bestehe wesentlich darin, "Vater und Mutter" zu "verlassen" und der Person des anderen "anzuhangen" (Gen 2,24) - ein Wechsel also von Abhängigkeit zu Anhänglichkeit, von Gebundenheit zu Verbundenheit, von Bewahrung zu Bewährung, der die vollständige Reifung eines Menschen zu sich selbst voraussetzt. Ehe ein solcher Wandel der gesamten Lebenseinstellung zugunsten einer reifen Entscheidungsfähigkeit und Freiheit nicht vollzogen ist, bleibt die Liebe, so sehr sie auch von zwei Menschen einander gelobt werden mag, vorerst nur mehr ein Versuch; sie bedeutet ein Versprechen, eine Verheißung, ist aber nicht schon selbst gelebte Wirklichkeit."


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