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Claudia Sperlich: kleine Märchen
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 09.01.2008 21:28von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Es braucht noch ganz viele Zeichnungen dazu, dann ist es perfekt!
Perfekt ist das Stichwort. Warum hast Du das im Präsens erzählt?
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 10.01.2008 00:18von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Warum im Präsens… Bela hat angefangen!
Tatsächlich habe ich einfach der Vorgabe gemäß weitergemacht, und am Ende fand ich es einleuchtend. Erzählerisches Präsens ist ja gerade für kleine "Bilderbuch-Geschichten" (ob nun tatsächlich Bilder dazukommen oder nicht) oft geeignet.
Und Illustrationen: Gerne - aber da müßte jemand ran, der einen Rollstuhl zeichnen kann, gar nicht so einfach!
[ Editiert von Leselust am 10.01.08 0:19 ]
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 10.01.2008 10:41von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
eben genau das meinte ich, Erzählerisches Präsens ist für bebilderte Geschichten sehr geeignet, ohne erzählt sich das ja im historischen Präsens besser, aber mit....
So, am Rollstuhl scheiterts...
naja, starten wir eine Ausschreibung, wer hat Lust zu illustrieren?
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 14.01.2008 14:19von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Hier eine weitere kleine märchenhafte Geschichte - für die ich auch mal Illustrationen gemacht hatte, die ich aber nicht ins Netz stellen kann.
Frau Wehmeyer putzt
In einem schönen alten Haus wohnen die Mörzners.
Gustav Mörzner schreibt Bücher,
Almuth Mörzner malt Bilder,
Hildchen Mörzner sabbert gerade ihren Teddy voll und freut sich.
Der Schlüssel knarzt im Schloß - die Tür geht auf - Frau Wehmeyer steht im Flur. „Oh, störe ich?“ sagt sie, „Es ist doch Dienstag?“ „Aber nein“, sagt Herr Mörzner und meint, Frau Wehmeyer stört nicht. „Sicher“, sagt Frau Mörzner und meint, es ist Dienstag. „Wawa“, sagt Hildchen und meint auch irgendetwas.
Frau Wehmeyer ist Putzfrau und kommt jeden Dienstag früh. Mörzners gehen dann meistens spazieren, damit sie ungestört putzen kann. Nur heute hatten sie es fast vergessen.
Frau Mörzner wäscht die Pinsel aus. Herr Mörzner schaltet den Computer ab. Hildchen Mörzner hält ihren Teddy fest und wird in den Kinderwagen gesetzt.
Die Tür fällt ins Schloß. Mörzners gehen spazieren. Frau Wehmeyer stellt das Radio an, macht den Abwasch und putzt die Spüle. Dann öffnet sie die Kellertür und pfeift einen ganz besonderen Pfiff. Im Keller rumpelt es, und die Treppe kommt hinaufgepoltert mit schleifender Schnur - der Staubsauger. Er macht vor Frau Wehmeyer Männchen und wedelt mit der Schnur, als sie ihn streichelt. Frau Wehmeyer steckt den Stecker in die Steckdose, und der Staubsauger schnurrt durch das Erdgeschoß. Frau Wehmeyer läuft vor ihm her und klatscht, da springen die Stühle und Papierkörbe auf die Tische. Der Staubsauger gleitet hinterher und frißt den Staub der letzten Woche. Dann steigt er saugend die Treppe zum Obergeschoß hoch. Die Schnur spannt, Frau Wehmeyer stellt den Staubsauger ab und zieht den Stecker heraus. Sie geht wieder zur Kellertreppe und pfeift dreimal, da kommen hüpfend, kullernd und schleifend der Schrubber, der Eimer und der Lappen. Der Eimer springt in die Spüle und läßt sich vollaufen. Der Lappen springt in den Eimer und schwimmt genüßlich im warmen Wasser. Dann klatscht er auf den Boden und wickelt sich um den Schrubber, der vor der Spüle strammsteht. Das Radio spielt einen Tango, Frau Wehmeyer umfaßt den Schrubber, und beide tanzen durch das Erdgeschoß, bis es blitzt.
Nun läuft Frau Wehmeyer nach oben. Im Kinderzimmer liegen die Spielsachen über den Boden verstreut. Frau Wehmeyer klatscht in die Hände, da wachen sie auf. Unten spielt das Radio eine flotte Polka. Die Stofftiere und Puppen tanzen in die eine Spielzeugkiste, und die Bälle und Bauklötze rollen und purzeln in die andere. Die vollen Kisten springen auf das Bett. Im Bad hüpfen Zahnbürsten, Badeschwämme und Seifenstücke auf das Schränkchen. Der Klodeckel springt auf. Frau Wehmeyer gießt Putzmittel hinein, und das Klo gurgelt und spült nach. Der Lappen für das Bad schmiegt sich in die Wanne, rutscht durch das Waschbecken und kreiselt im Bidet, wringt sich aus und hängt sich über ein Abflußrohr. Die Zahnbürsten, Badeschwämme und Seifenstücke tanzen wieder an ihre Plätze.
Inzwischen ist Frau Wehmeyer wieder nach unten gelaufen. Sie hilft dem vollen Eimer aus der Spüle, winkt den Lappen in das Wischwasser und bittet den Schrubber nach oben. Zu einem kleinen Wienerwalzer wischt sie das Bad, trägt dann Eimer und Lappen wieder nach unten. Der Schrubber hüpft voraus.
Nun tätschelt sie den Staubsauger und steckt den Stecker in die Steckdose oben. Der Staubsauger knurrt und bockt, er ist eifersüchtig auf den Schrubber. Erst als Frau Wehmeyer ein Stück Zucker auf die Auslegeware wirft, schnurrt er wieder und gleitet flott durch das Obergeschoß. Hinter ihm springen die Spielzeugkisten auf den Boden und rücken aneinander. Ein Ball versucht auszureißen, aber der Staubsauger dreht sich um und droht ihm mit erhobener Düse, und der Ball hopst verschreckt in die Kiste.
Nun zieht Frau Wehmeyer den Stecker wieder heraus und hilft dem Staubsauger die Treppen herunter in den Keller. Dort rollt er die Schnur ein und geht schlafen.
Im Erdgeschoß springen die Möbel und Papierkörbe brav wieder an ihre Plätze. „Ich danke euch allen“, sagt Frau Wehmeyer herzlich und nimmt den Geldschein, den die Mörzners für sie auf die Anrichte gelegt haben. Gerade will sie gehen, als Mörzners nach Hause kommen. „Es strahlt ja wieder bei uns“, sagt Frau Mörzner. Herr Mörzner sagt: „Sie machen das immer ganz besonders schön.“ „Ich putze eben gerne“, sagt Frau Wehmeyer. „Wawa“, sagt Hildchen und lächelt.
© Claudia Sperlich
[ Editiert von Leselust am 14.01.08 21:29 ]
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 16.01.2008 12:27von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Fotografieren, geht nicht scannen? Falls die dafür Bilder zu groß sind, plotten?
In guten Copyshops machen die Dir daraus Dateien...
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 08.03.2008 00:39von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Heute mal ein Märchen in Form eines Kasperletheaters. Ich habe das vor einigen Jahren geschrieben und zu einem Fest gemeinsam mit meiner Mutter und einem Freund des Hauses vor den Kindern der Gäste aufgeführt.
Hexe reitet auf dem Drachen über die Bühne, dann ab
Kasper Tri tra trallala… Seid ihr alle da? Guten Tag, Polly, Bela, Mariana, Jochen, Gabriel, Aurélie, Emanuel, Oskar, Rebekka!
Dann können wir ja anfangen. Wir spielen heute „Die Drachenjagd“. Da kommt ein König vor, eine Prinzessin, eine Hexe, ein Drache und ein Polizist, und natürlich ich.
Die Figuren zeigen sich.
Polizist allein
Ich sorge hier für Ordnung und für Recht,
damit die Guten beides immer haben.
Ich nehme fest, was bös, brutal und schlecht,
laß mir nicht drohn und nehme keine Gaben.
Ich bin so redlich, wie ein jeder sein soll,
und sorge stünd- und täglich fürs Gemeinwohl.
Ich tue meinen Dienst, wie sichs gehört.
Wo Menschen Hilfe brauchen, helf ich ihnen,
und wer den Frieden dieses Ländchens stört,
der Strolch kommt hinter schwedische Gardinen.
Das Recht der Schwachen, unser Staat ersann es,
muß einer hüten, und gewiß, ich kann es.
ab
Kasper allein
Das Wetter ist herrlich, die Küche gewischt,
da mach ich mich, ehe die Sonne verlischt,
mal ganz alleine auf meine Beine
und geh in den Wald, der die Lunge erfrischt.
Das Wetter ist herrlich, das Wohnzimmer blitzt,
ich wäre ja dumm und gar nicht gewitzt,
wenn ich rumhinge und jetzt nicht ginge
hinaus in den Wald, wo der Sonnenschein sitzt.
Das Wetter ist herrlich, der Kühlschrank ist voll,
ein Butterbrot her! Auch Kaffee ist toll,
und Schokolade, es wäre ja schade,
wenn ich beim Spazierngehn verhungern soll.
ab
Hexe, dann Drache
Hexe
Gestern noch auf stolzen Drachen,
heute kratzt es mich im Rachen!
Ach, ein solcher Drachenritt
nimmt mich arme Alte mit!
Das ist das letzte Mal gewesen!
Ab heute reit ich wieder Besen!
Reitdrachen sind ja ganz schick für junge Hexen - aber so schnell! Der ewige Gegenwind macht mich ganz krank. Und dann stinkt es ständig nach Schwefel! Und den Stall ausmisten habe ich mir auch nicht so schwer vorgestellt.
Drache Hurp, hurp.
Hexe Brauchst du etwa schon wieder Futter?
Drache nickt heftig
Hurp!
Hexe Du frißt mir noch die Haare vom Kopf. Na, komm in den Stall, dann kriegst du Drachenkraftfutter. - Teures Zeug, übrigens. Aber was soll man machen, die einzige Prinzessin hier herum wird zu gut bewacht.
führt den Drachen beiseite
Drache Hurp, hurp, hurp.
Hexe Guck mal, hier ist mehr Futter.
geht vor dem Drachen her
Guck, hier. Und ganz da vorne noch.
Drache folgt ihr und verschwindet im Wald
Hexe allein
Endlich allein! Hihihi! Ich habe ihn in den Wald gelockt. Da soll er selber sehen.
Jetzt bin ich ihn los, hihihi.
ab
Polizist, dann Drache
Polizist Zu meiner Arbeit gehört auch der tägliche Kontrollgang, um nachzugucken, ob nichts passiert ist. Heute werde ich den Kontrollgang mal im Wald machen. Vielleicht finde ich Räuber. Die gehen bei diesem Wetter sicher auch in den Wald.
Drache Hurp! Hurp!
Polizist Huch! Was ist denn das da? Ein Hund? Ein Wolf? Oder eher ein Leguan?
Drache läuft auf den Polizisten zu
Hurp, hurp, hurp.
Polizist Hilfe!
rennt weg
Drache, Kasper
Kasper Tri tra trallala… Wie herrlich leuchtet mir die Natur! Ich gucke mal, wo ich hier picknicken kann.
Drache kommt schnüffelnd auf Kasper zu
Hurp, hurp, hurp.
Kasper He, laß das! Nicht!
Drache reißt die Provianttasche an sich
Kasper Oh, hast du Hunger?
Drache Hurphurphurp! Arr. Harrmp.
Kasper Na komm, da hast du Brot. Ich pack es aus. Und da ist noch Schokolade. Magst du Kaffee?
Drache begeistert
Arrr. Hmpf, humpf. Glllk, glllk. Hurp, hurp.
Kasper Laß dich mal anschaun, ja meine Güte, du bist ja ein Drache! Ich dachte, du wärst ausgestorben. Aber hör mal, Schokolade fressen ist in Ordnung, aber beißen wirst du nicht, verstanden?
Drache läßt sich streicheln
Hurrrr.
beide ab
König, Prinzessin, Polizist
Polizist Herr König! Ein Drache macht unseren Wald unsicher!
König Ein Drache? Ja, gibts denn sowas?
Polizist Bestimmt! Groß, grün, schuppig, grunzend, stinkend!
Prinzessin Vielleicht ist er jemandem weggelaufen, wie die Katze neulich!
König Polizist, du mußt den Drachen einfangen. Er stellt eine Gefahr für die Bevölkerung dar, und zur Bevölkerung gehört immerhin auch meine Tochter.
Prinzessin Darf ich helfen, Papa? Die Katze habe ich auch angelockt.
König Es handelt sich hier um einen Drachen. Das ist zu gefährlich, mein Kind.
alle ab
Kasper, Drache, Polizist, später Hexe
Kasper Komm, Drache. Ich will dich dem König zeigen, Könige mögen so was meistens.
Polizist Wo ist bloß dieser Drache… Himmel… Stehenbleiben! Sie sind vorläufig festgenommen!
Kasper Wer, ich?
Drache Arrrp?
drängt sich an Kasper
Polizist Der Drache natürlich! Drachen stellen eine Gefahr für die Allgemeinheit dar!
Kasper Laß ihn doch vorläufig in Ruhe, er kriegt ja Angst.
Polizist Hm - er sieht wirklich nicht sehr böse aus. Du kannst wohl gut mit Drachen?
Kasper Naja, ganz allgemein möchte ich das nicht sagen. Aber wenn sie Schokolade mögen und ich habe welche, ja, dann kann ich gut mit Drachen.
Hexe kommt von der anderen Seite
Ach wie froh ich bin, daß er weg ist! Hihihi! Jetzt will ich Kräuter suchen für einen schönen Tee.
Drache Hurphurphurp! Arp, arp, ahurp!
Hexe Geh weg!
Polizist Ist das Ihr Drache?
Hexe Ja, äh… Er tut nichts… Naja, ein Fehlkauf. Drachen sind doch eher was für Jugendliche - und Drachenkraftfutter ist so teuer.
Polizist Tiere aussetzen ist verboten. Sie hätten ihn wenigstens ins Tierheim bringen können.
Kasper Übrigens frißt er auch Brot und Schokolade. Kaffee mag er auch.
Hexe Hihihi, wenn du gut mit ihm umgehen kannst, nimm ihn doch.
ab
Kasper, Polizist, Drache, König, Prinzessin
Polizist Herr König, der Drache ist in Sicherheit. Die Hexe hatte ihn ausgesetzt.
König Ja, was soll ich mit dem Drachen? Und sind wir denn auch in Sicherheit vor ihm?
Polizist Mir scheint, dieser Drache ist recht ungefährlich.
Prinzessin Ist der süß! Und ausgesetzt, der Arme! Papa, darf ich ihn haben?
König Kind, das ist immerhin ein Drache. Drachen fressen doch wohl Prinzessinnen.
Kasper Nicht, wenn sie Schokolade kriegen. Die mögen sie lieber. Dieser jedenfalls.
Prinzessin gibt dem Drachen ein Stück Schokolade
Hier, Drache.
Drache Hurp, hurp.
legt sich auf den Rücken; Prinzessin krault ihn
Hurrrrrrr.
König Na gut. Aber du mußt versprechen, ihn immer gut zu behandeln, den Stall sauberzuhalten und ihn regelmäßig zu füttern, vor allem das.
Prinzessin Gerne, Papa. Er ist ja so süß!
Kasper Ich helfe dir auch. Wenn du in die Ferien fährst, sorge ich für ihn.
Prinzessin und Kasper umarmen sich, Drache kuschelt sich an sie.
Vorhang.
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 15.01.2010 18:10von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Das Märchen vom Kitschroman
In jenem Lande, da der Mond des Nachts wie eine runde Scheibe Helva mit Pistazien den samtblauen sternenfunkelnden Himmel durchkugelt, lebte einst eines reichen Kaufmannes einzige Tochter, schön wie die selbigem Monde folgende Morgenröte. Als sie zur Jungfrau erblüht war, freiten viele wackere Männer um sie, aber keiner rührte ihr Herz. Der besorgte Vater begann schon zu argwöhnen, seine liebliche Tochter sei nach griechischer Art für die Köchin entflammt, aber sie zeigte sich ebenso sittsam wie spröde.
Eines Tages aber fand ihr Vater, da er morgens ihre Kammertür öffnete, seine geliebte Tochter in inniger Umarmung mit einer Schreibfeder. Schon entquoll der Feder purpurrote Tinte, und die schöne Kaufmannstochter seufzte vor Wonne, da sprang der erzürnte und gekränkte Vater auf die Feder zu und wollte sie seiner Tochter entreißen.
Die Liebenden zitterten vor Angst, aber die ebenso tapfere wie liebliche Maid ermannte sich rasch, riß das Fenster auf, hielt sich an der Schreibfeder fest und entschwebte mit ihr.
Fern in einem stillen Wald ließ das Paar sich nieder, und siehe, neun Monate darauf war die Frucht ihrer heimlichen Liebe ein honigtriefendes, rosenduftendes Büchlein. Ein frommer Eremit, der rein zufällig denselben Wald bewohnte, traute das junge Paar und fertigte eine Abschrift des Sprößlings an, die er dem Vater durch einen fahrenden Schüler überbringen ließ.
So entstand der Kitschroman, und der Kaufmann söhnte sich bald darauf mit seiner Tochter und dem leichten Schwiegersohn aus, da er merkte, wie gut die Kinder der beiden sich verkaufen ließen.
Ihre Nachkommen waren zahlreich wie der Wüstensand und die Sterne am Himmel, über den, wie bereits erwähnt, eine Scheibe Helva zu rollen pflegt.
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 21.09.2010 11:23von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Oh du lieber Augustin
Es war einmal ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren, das lebte alleine mit seinem Urgroßvater, der ungefähr zehnmal so alt war. Sie hatten nur noch einander, weil alle anderen aus der Familie gestorben waren.
Das Mädchen konnte schon etwas sticken, und der Urgroßvater konnte noch ein bißchen schnitzen, und so verdienten sie ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht. Aber die Leute in dem kleinen Dorf waren freundlich zu ihnen, halfen ihnen aus, wenn der Winter arg kalt war und das Brot arg knapp; die beiden hatten nie viel, aber verhungern mußten sie nicht. Außerdem wußte der Urgroßvater viele Abenteuergeschichten zu erzählen, und das Mädchen dachte sich wundervolle Spiele aus. So wurde den beiden und auch den anderen Leuten im Dorf, Kindern wie Großen, nie langweilig.
Eines Tages schickte der König Boten in alle Städte und Dörfer, die sagten: Wer das Kind des Königs aus den Klauen des bösen Drachen befreie, der es leider entführt habe, dem solle das halbe Königreich gehören und die Hand des Königskindes.
Aber niemand im Königreich war für den Kampf mit Drachen ausgebildet; auf dem Land wußte man nur, daß die meisten Drachen Feuer speien und Menschen fressen, daß folglich vom Königskind vermutlich kaum mehr als die versprochene Hand übrig war und es also nur um das halbe Reich ging, und da es beschwerlich genug ist, einen halben Morgen zu bebauen, wollte sich niemand ein halbes Königreich antun.
Auch in den Städten hatten die meisten Leute ähnliche Gedanken, hatten bereits eine Familie oder schrecklich wichtige Geschäfte, die sie nicht einen Tag lang aus den Augen lassen durften - und so hatte sich noch niemand gefunden, den Kampf mit dem Drachen zu versuchen.
Ganz zuletzt kamen die Herolde auch in das Dorf, in dem jenes Mädchen mit seinem Urgroßvater wohnte. Das Dorf lag so abgeschieden, daß man die Entführung gar nicht mitbekommen hatte, zumal der Drache in den Wald auf der anderen Seite des Reiches geflogen war. Nicht einmal von der Geburt des Königskindes wußte man hier Genaueres, außer daß sie schon ungefähr zwölf oder vierzehn Jahre her war, denn die Herolde waren damals so schnell durch das ganze Reich geritten, daß sie dies entlegene Fleckchen übersehen hatten.
Zwar waren die Leute im Dorf gespannt, was die buntgekleideten Herolde zu sagen hatten, und hörten die Geschichte mit aufrichtigem Mitleid - aber keiner wagte, den Drachen zu bekämpfen. Nur die kleine Anna sagte: "Uropa, da muß man doch was tun!" Der Urgroßvater wiegte sein Haupt, strich Anna über den Kopf und fragte: "Was meinst du denn, daß man tun könnte?" "Man muß erstmal hingehen und gucken", antwortete Anna ganz verständig, denn das hatte sie von ihrem Urgroßvater oft gehört. "Gut", sagte der, "wenn du durchaus möchstest, geh, aber dann komme ich mit. So lange Wege kannst du noch nicht alleine machen." (Manchmal lebte der Alte in einer sanften Traumwelt und sah die Dinge freundlicher an als in seiner Jugend.)
Die Herolde lachten erst und wollten dem Alten und dem Kind ihr Vorhaben ausreden, aber der Urgroßvater konnte sehr halsstarrig sein und das Kind sehr trotzig, und nachdem dieser mehrfach geknurrt hatte "Ihr macht jetzt, was ich sage" und jene mehrmals mit dem Fuß aufgestampft und "Doch, wir kommen" gebrüllt hatte, meinten sie, ehe sie gar keinen Helden vor den König brächten, nähmen sie lieber diese beiden Käuze.
Dem König war inzwischen schon alles gleich geworden, wenn nur sein geliebtes Kind gerettet würde. Die Königin sah zwar mißtrauisch auf das Paar und flüsterte ihrem Gatten etwas ins Ohr, aber der brummte nur unwirsch und befahl, man solle die beiden ausrüsten. So brachte man ihnen zwei Rüstungen und zwei Schwerter, aber der Urgroßvater war viel zu schwach, um Rüstung und Schwert zu tragen, und in Annas Größe hatten sie nichts Passendes. Schließlich brachte der Koch ein Schälmesser für Anna und ein Tranchiermesser für den Urgroßvater, damit sie doch irgendetwas hätten. In einer Kutsche fuhr man sie dann bis zu dem Wald, in dem der Drache hauste.
Nun mußten die beiden alleine weitergehen. Unterwegs aßen sie Himbeeren und sangen Wanderlieder und gingen so gerade wie möglich nach Norden (denn Drachen wohnen am liebsten im Norden, soviel ist sicher). Zwei Nächte schliefen sie unter freiem Himmel; der Alte stand zwar etwas schwerfällig auf, aber er dachte viel an seine Jugendzeit und erzählte Anna von schönen Meisterstöchtern und geizigen Herbergswirtinnen. Anna fand es schön, im Moos zu schlafen und in die Sterne zu blicken, und wenn nicht der Drache gewesen wäre, wäre es eine wundervolle Abenteuerreise gewesen. Aber am dritten Tag in der Frühe roch es ziemlich streng, und gegen Mittag stank es wie ein ungepflegter Ziegenstall, denn Drachen waschen sich nie. Am Abend gelangten sie an die Höhle des Drachen, und beiden wurde etwas übel, denn der Gestank war hier kaum auszuhalten. "Hier ist ewig nicht Gülle gefahren", sagte der Alte, "packen wirs an, Mädchen, und danach müssen wir ins Heu."
"Guck, der Drache hat die Vorhänge zugezogen", sagte Anna und zeigte auf den Eingang der Höhle, der mit etwas Grünem verschlossen war. "Ich glaube eher, das ist der Drache", meinte der Urgroßvater, "er hat Schuppen."
"Drache, bist du zu Hause?" rief Anna, und die Schuppen bewegten sich. Eine kopfgroße, scharfkrallige Echsenpranke schob sich hervor. Anna bekam Angst und drängte sich an ihren Urgroßvater, der sie beruhigend in den Arm nahm und ein Schlaflied summte. Der Drache wurde unruhig und streckte seinen Kopf vor, blickte aus schwefelgelben Augen auf die beiden und riß sein Maul auf, in dem mehrere Reihen dolchartiger Zähne standen. Der Urgroßvater sang, laut und nicht ganz richtig: "Oh du lieber Augustin, alles ist hin, hin, hin!" Der Drache zuckte zusammen und hustete Funken. "Du, er kriegt Angst", flüsterte Anna und fiel ein: "Hut ist weg, Stock ist weg, Augustin liegt im Dreck!"
Mit einem lauten Jammerton drängte sich der Drache aus der Höhle und entfaltete seine ledrigen Schwingen. "Auf ihn", rief der Urgroßvater begeistert, aber im gleichen Augenblick stürzte der Drache sich auf ihn. Anna riß ihren Urgroßvater gerade rechtzeitig zur Seite, und der Drache spie eine Flamme dorthin, wo beide gerade noch gestanden hatten. "Zerr mich nicht so, Anna", schimpfte der Urgroßvater, sah sich nach dem Drachen um und sang weiter: "Hut ist weg, Stock ist weg, Geld ist weg, alles weg!" Der Drache zitterte und hustete wieder, und Anna fiel noch einmal in den Kehrreim vom lieben Augustin ein. Wieder machte der Drache Anstalten, zu fliegen, und Anna flüsterte: "Er mag keine Musik!" "Schau, der Drache fliegt davon, fliegt davon, fliegt davon!" sang der Urgroßvater, und genau das tat der Drache. Er hob sich schwerfällig, wandte sich über den Bäumen nach Norden und flog langsam, dann immer schneller fort. Nur einen durchdringenden Gestank hinterließ er, und in der Ferne sahen die beiden noch eine gewaltige Flamme über den Himmel schießen.
Flach atmend betraten die beiden Menschen die Höhle. "Prinzessin, bist du hier?" rief Anna. Aus der düsteren Tiefe lief ihnen ein junges Mädchen in einem schmutzigen und zerrissenen Seidenkleid entgegen. Sie war sehr blaß, strahlte aber vor Freude. "Ist er weg?" rief sie, und der Urgroßvater antwortete bedächtig: "Wenn du den Drachen meinst, ja, der ist weg. Aber wir sollten jetzt wohl auch gehen."
"Wieso hat er dich eigentlich nicht gefressen?" fragte Anna, als die drei die Höhle hinter sich gelassen hatten und an einem Himbeerbusch rasteten. "Ich weiß es nicht", sagte die Prinzessin, "er hat mir sogar Essen gebracht, Kaninchen und Rebhühner und Wachteln und so." "Wie, einfach so rohe tote Tiere?" "Nein", erwiderte die Prinzessin etwas nachdenklich, "er kann ja Feuer speien, gar waren sie immer. Nur nicht besonders gründlich gerupft - und ungesalzen." Sie verzog das Gesicht und stopfte sich eine Handvoll Himbeeren in den Mund.
"Vielleicht wollte er dich mästen", meinte der Urgroßvater. "Ja, vielleicht", sagte die Prinzessin zögerlich und sah an ihrem lose hängenden Kleid herunter, "ist ihm aber nicht gut gelungen." "Sei froh", sagte Anna. Dann gingen die drei weiter.
Bald sahen sie in der Ferne das Schloß. Die Prinzessin juchzte auf und ging schneller. "Mein Vater wird euch bestimmt belohnen", sagte sie. Anna und ihr Urgroßvater sahen sich an. "Wird er wohl", sagte der Alte bedächtig, "aber irgendwie, also..." "Das geht so nicht", meinte Anna entschieden. "Was ist", fragte die Prinzessin, "wollt ihr etwa keine Belohnung?" "Naja", sagte Anna, "es ist ja nur, er hat uns deine Hand versprochen. Und du kannst ja nicht beide heiraten." "Eigentlich keinen von uns", nickte der Urgroßvater. "Anna ist ein Mädchen, und ich bin zu alt." Die Prinzessin sah von Anna zum Urgroßvater und wieder zurück und fing plötzlich an, schallend zu lachen.
Wenige Stunden später kamen am Schloß drei Menschen an, ein kleines Mädchen, eine Jugendliche in seidenen Lumpen und ein Greis, alle kichernd und sich die Lachtränen aus den Augen wischend.
Die Torwächter stießen zornig ihre trauerbeflorten Hellebarden auf den Boden und vertraten den so ungebührlich lustigen Gestalten den Weg - aber dann erkannten sie die Prinzessin, verneigten sich tief und ließen die drei ein.
Noch am gleichen Abend gaben König und Königin ihrer Tochter und den beiden Rettern ein gewaltiges Fest. Der König erhob sich feierlich und sagte etwas verlegen:
"Ihr habt beide meine Tochter gerettet, und ich habe nur eine Hälfte meines Reiches zu vergeben. Außerdem habe ich nur eine Tochter zu vergeben, und obwohl ich es ja versprochen hatte und ein König sein Wort hält, also jedenfalls ich, nun, hm... werdet ihr sehen, daß es hier gewisse Schwierigkeiten..."
"Papa", fiel die Prinzessin ihm ins Wort, "jetzt sei doch nicht so umständlich. Die wollen mich schon nicht heiraten."
Der König seufzte erleichtert auf, die Königin hielt sich ihr Spitzentaschentuch vor den Mund und tat, als müsse sie husten (denn Kichern galt bei Königinnen als unfein), und der Urgroßvater sagte: "Geben sie das halbe Reich einfach meiner Urenkelin. Die ist ja ein vernünftiges Mädchen und wird es schon richtig aufteilen."
Das Fest bei Hofe dauerte mehrere Tage, und in dieser Zeit besprach Anna mit ihrem Urgroßvater, wie sie am besten mit dem Land verfahren sollte. Sie kamen überein, man solle reichlich Steckrüben säen, damit auch in harten Wintern alle zu essen hätten. Der Koch aber, der froh war, seine Messer unbeschadet wieder zu bekommen, meinte, Steckrüben allein seien doch zu eintönig, und überredete Anna, auch Spargel und Artischocken anbauen zu lassen. Außerdem seien Steckrüben besonders delikat zu Wild, und also solle sie einen Teil des Waldes nehmen und bejagen lassen, das ergänze sich prächtig.
"Ein Teil vom Nordwald", meinte Anna, "dann kann man gleichzeitig aufpassen, daß keine Drachen kommen."
So mußte nie wieder jemand im Königreich hungern, das Land wurde reich von Steckrüben, Spargel und Artischocken, die Prinzessin heiratete einen Mann ihrer Wahl, der Angst vor Echsen hatte, aber sehr lieb war, Anna vergaß niemals die schönen Wandertage im Wald, wurde Försterin und Jägerin und erlegte gelegentlich einen jungen Drachen, und der Hofkoch erfand das später weltbekannte Gericht "Großechsenfilet an pürierter Steckrübe".
Der Urgroßvater starb spät mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen. Auf seinem Grab blühen Spargel und Artischocken, und manchmal sonnen sich Eidechsen auf dem Grabstein.
[ Editiert von Leselust am 23.09.10 12:01 ]
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 11.05.2012 22:59von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Das folgende Science-Fiction-Märchen habe ich vor Jahren als Auftragsarbeit für einen Jungen zum 10. Geburtstag geschrieben und vorgelesen.
Die Fliegenfänger
Anton trat in die Pedale. Endlich Schulschluß. Er fuhr in den Wald am Stadtrand. Es gab da eine Lichtung mit Wiesenchampignons.
Hinter ihm keuchte und knirschte es. Ohne sich umzudrehen, rief er: „Frank, was ist los?“ Nur Frank kam beim Radfahren so außer Atem.
„Nichts“, rief Frank. „Ich dachte bloß, wir können nachher Eis essen.“ Franks Eltern hatten ein Eiscafé, und wenn Frank zum Eis einlud, brauchte er Hausaufgabenhilfe. Anton seufzte. „Erst will ich ein Stück fahren.“
Die Lichtung war besetzt. „Die spinnen wohl, hier zu campen“, murmelte er. Aber das silbrige Ding sah nicht wie ein Zelt aus. Anton lehnte sein Fahrrad an einen Baum und ging darauf zu. Frank folgte ihm zögernd.
Mitten auf der Lichtung stand es, chromglänzend, rund wie ein Teller, etwa doppelt so groß wie ein sehr großer Wohnwagen, aber nicht auf Rädern, sondern auf fünf kurzen Säulen. In der Mitte war es hochgewölbt wie das Gelbe vom Spiegelei. Leute sahen die Jungen nicht.
Aus der Spiegelei-Wölbung quollen plötzlich handgroße graue Wolken heraus, waberten auf die beiden zu. Anton wich zurück, blieb dann stehen und versuchte, zu glauben, was er sah. Es waren Staubflusen.
Staubflusen, federleicht und wallend, so wie man sie unterm Bett vorholt beim Reinemachen, aber größer. Anton grinste gequält. Ein Raumschiff kann nicht so voll Staubmäusen sein wie der Boden unterm Bett eines Jungenszimmers.
„Vielleicht ist das eine Art Sondermüll, vielleicht giftig. Paß auf.“
Frank schauderte. „Komm, wir hauen ab.“
Anton gab ihm innerlich recht. Aber andererseits - wann würde er je wieder die Gelegenheit haben, ein Raumschiff zu beobachten? „Du spinnst“, sagte er entschieden, „wir bleiben. Muß doch rauszukriegen sein, was das ist.“
Frank brummelte etwas Unverständliches und blieb.
„Wo kommen die Dinger eigentlich raus?“ wollte Frank wissen.
„Na, oben aus der Kuppel.“
„Ja, aber siehst du ein Loch? Oder eine Tür oder was immer?“
Anton zuckte genervt die Schultern. „Der Eingang kann ganz oben sein, oder auf der anderen Seite. Dann sehen wir ihn von hier nicht.“
„Oder vielleicht brauchen sie keine Tür“, meinte Frank. „Wenn sie sich da durchbeamen oder was immer. Vielleicht ist das ja auch kein festes Material.“
„Oh Mann, Frank.“ Anton war beeindruckt. „Wenn das stimmt - und wenn wir das rauskriegen…“ Er wußte nicht, was dann wäre, aber es konnte nur großartig sein.
Die Flusen waren inzwischen auf einen halben Meter herangekommen. Die Jungen wichen weiter zurück und rückten unwillkürlich näher aneinander. Die Flusen bildeten einen Halbkreis und plusterten sich auf.
„Entschuldigen Sie“, sagte Frank mit unnatürlich hoher Stimme, „wir wollen nicht stören.“
Aber die Flusen schienen das nicht wahrzunehmen, rückten näher zusammen, aber nicht um die Jungen, sondern -
„Iiiih“, schrie Anton, „guck dir das an, oh Sch…“
„Ein Hundehaufen“, sagte Frank sachlich. Die Flusen scharten sich um das glänzende Ding auf der Lichtung, rückten nah an es heran.
„Das ist kein Staub“, entschied Anton. „Ich geh jetzt gucken, was es ist.“
Frank wollte wirklich nicht näher an einen Hundehaufen und Staubflusen herankommen, aber allein bleiben vor einem Raumschiff wollte er erst recht nicht.
Die Jungen hockten dicht nebeneinander.
„Krass“, murmelte Anton.
„Eigenartig“, sagte Frank und rümpfte die Nase.
Vor ihnen lag, unverkennbar, da oft gesehen, ein Hundehaufen. Auf ihm saßen fette grünschillernde Fliegen. Im Halbkreis darum waberten neun Staubflusen. Von Zeit zu Zeit schwebte eine näher heran. Zwei rückten eng zusammen, woraufhin die eine zurück zu dem Raumschiff schwebte und nach wenigen Minuten wiederkam. Dann schlossen alle einen Kreis um Haufen und Fliegen und waberten einigemal auf und ab. Und dann -
„Ich faß es nicht“, sagte Frank.
„Nee“, sagte Anton.
Um den Haufen herum wuchs eine gläserne Wand etwa zwei Handbreit in die Höhe, schloß sich oben mit einer siebartig durchlöcherten Glasscheibe ab und hob sich samt Inhalt und einem Glasboden knapp unter dem Grasboden langsam bis zur Kopfhöhe der Jungen, flog lautlos auf die Kuppel des Raumschiffs und versank darin.
„Ist dir schlecht?“ fragte Frank besorgt; Anton hatte sich hingekniet und stütze sich mit den Händen auf dem feuchten Gras ab.
„Leise“, bekam er zur Antwort.
Anton hob eine Hand sehr vorsichtig, knapp über die Staubflusen, die jetzt hintereinander auf das Raumschiff zuwallten - senkte die Hand, zu einer kleinen Kuppel geformt - schlug sie heftig nach unten.
„Ich habe eins“, flüsterte er, „hast du eine Schachtel oder so was?“
„Du spinnst“, stellte Frank nicht ohne Ehrfurcht fest und wühlte in seinen Taschen. „Nein, nichts. Plastiktüte geht nicht, da erstickt es.“
„Wir wissen nicht einmal, ob es Sauerstoff braucht“, wollte Anton sagen, aber es verschlug ihm die Sprache. Die Hand, die das Etwas umschloß, wurde heiß, die Hitze kroch den Arm hinauf, die Schulter, den Hals - der Kopf schien zu glühen - dann war sein Kopf wieder kühl und klar, und in diesem klaren Kopf hörte er sehr deutlich:
„Laß mich raus, OK?“
„Wo soll ich dich denn rauslassen, Blödmann,“ schimpfte Anton, „wir sind draußen, oder wie nennst du das hier?“
Frank bezog das auf sich.
„Gehts dir noch gut? Ich hab nichts gesagt, und du fängst an, rumzuspinnen - ey, Anton!“
Anton hörte wieder in seinem Kopf:
„Laß mich raus. Ich brauch Platz, ist das klar?“
Frank sah, wie Anton sehr blass auf dem Gras kniete, und rüttelte ihn an der Schulter.
„Anton, das ist nicht komisch! Steh auf, Mann!“
„Leise“, sagte Anton genervt, „leise, ich muß das hören.“ „Kannst du mich jetzt vielleicht mal rauslassen, du Heini?“ sagte es in seinem Kopf.
Frank sagte niemals Heini. Er redete überhaupt anders. Das Ding in seinem Kopf redete wie - wie - wie er selbst. „Natürlich rede ich wie du, laß mich endlich raus, klar?“
Frank sah wirklich besorgt aus. Und er bewegte die Lippen nicht.
„Hör mal, Frank, ich glaube, da spricht was zu mir. Bitte, bleib ruhig. Ich glaube, ich kann mit dem Ding reden.“
Die Stimme in Antons Kopf wurde spitz.
„Einstweilen rede ich mit dir. Läßt du mich jetzt raus oder nicht?“
„Entschuldige“, murmelte Anton und hob die Hand.
Die Staubfluse sah etwas zusammengesunken aus.
„Mann, o Mann, das hat lange gedauert“, hallte es in Antons Kopf.
„Was machst du eigentlich hier?“ fragte Anton. „Und wie machst du das in meinem Kopf?“
„Ich bin Leiter der Kommission Haustier“, hallte es. „Und ich unterhalte mich mit dir, nachdem ich ein ganz einfaches Hirnscanning gemacht habe. Du brauchst deine Antworten nicht herauszuposaunen. Es langt, wenn du ganz klar denkst.“
Anton zuckte zusammen.
„Entschuldige, aber kannst du nicht laut reden? Mein Freund versteht dich sonst nicht.“
„Wenn es notwendig ist, daß er versteht, mußt du laut aussprechen, was du hörst. Unsereins ist auf Stimmwerkzeug nicht angewiesen.“
„Es ist notwendig“, versicherte Anton. „Frank, tu mir einen Gefallen und glaub mir einfach.“
Frank hörte mit offenem Mund, was Anton berichtete. Dann sagte er:
„Ich glaube nicht, daß es viel bringt, wenn ich hier rumsitze und dir beim Denken zusehe. Ich schau mir das Raumschiff an.“
„Okay, aber wenn ich rufe, komm, und wenn du mich brauchst, ruf auch.“
Frank nickte stumm und ging auf das Raumschiff zu.
Von nahem sah es gar nicht metallisch aus; es schimmerte seidig. Die Säulen waren etwas dunkler. Frank fuhr mit dem Zeigefinger über die silbrige Fläche; sie fühlte sich an wie sehr feiner Stoff, gab etwas nach und kam gleich darauf in die alte Position. Die Kuppel verdunkelte sich einen Augenblick lang. Dann waberte eines dieser Staubdinger auf Franks Hand zu. Ihm wurde warm, der Kopf glühte, dann fühlte er sich wieder normal.
„Finger weg“, klang es in seinem Kopf.
„Tschuldigung“, sagte Frank. „Ich interessiere mich doch so für Raumfahrt.“
„Schon gut“, hallte es. „Aber du hast verschwitzte Hände, sonderst also Säure ab.“
„Na und?“
„Die Oberfläche unseres Raumschiffes leidet darunter. Also, wie gesagt, Finger weg. Was möchtest du sonst noch wissen?“
„Wo kommst du her, und warum bist du hier?“
Es pfiff wie bei einer Rückkopplung. Dann meldete sich die Stimme im Kopf wieder:
„Die Informationen in deinem Gehirn reichen nicht aus, eine verständliche Antwort auf die erste Frage hinzubekommen. Zweite Frage: Dies ist eine Expedition zur Aquise von Haustieren.“
Das Wort Aquise kannte Frank von seinem Vater. Es hieß soviel wie Finden von neuen Kunden. Aber woher kannte das Ding dieses Wort?
„Selbstverständlich von dir“, tönte es in seinem Kopf. „Da du das Wort Aquise in deinem Gehirn gespeichert hast, ist es beim Scanning auf mich übergegangen.“
„Dann kennst du jedes Wort, das ich kenne?“
„Logisch.“
„Warum kannst du mir dann nicht sagen, woher du kommst?“
„Die Bezeichnung für meinen Heimatplaneten ist in einem Hirn wie deinem kaum zu erwarten.“
„Und warum machst du überhaupt ein Gehirnscanning?“
„Damit du abhaust. Du nervst nämlich.“
„Darf ich mir nicht erstmal das Raumschiff angucken?"
„Gucken, meinetwegen. Aber Finger weg. Und jetzt laß mich in Ruhe, ich habe zu tun.“
Während Frank um das Raumschiff ging und versuchte, einen Eingang zu finden, überlegte er, in welchen Hirnregionen er so unglaublich beleidigende Sätze gespeichert hatte.
„Es müssen meine Erinnerungen sein“, dachte er. „Erinnerungen, die ich vergessen hatte. Abartig.“
Anton kauerte immer noch auf dem Boden. Die Staubflusen waren fort. Er sah auf, als Frank vor ihm stand.
„Krass“, sagte er. „Die reden in meinem Gehirn.“
„In meinem auch“, sagte Frank und berichtete.
Anton zuckte hilflos die Schultern.
„Und jetzt hauen sie ab, und wir können sie nicht rufen.“
„Wieso nicht?“ fragte Frank. „Die merken doch, was wir denken. Und was wir sagen, denken wir ja gleichzeitig auch. Wenn wir im Chor rufen, denken wir also auch im Chor.“
„Und das müßten sie hören, oder empfangen, oder was immer“, meinte Anton zweifelnd. „Versuchen kann mans ja. Was wollen wir sagen?“
„Also, ich will in das Raumschiff.“
„Ich will erstmal wissen, warum die Viecher hier sind. Ein Hundehaufen kann ja wohl nicht alles sein, was die wollen.“
„Sie haben was von Haustieren gesagt.“
„Ja, und?“
Die Jungen sahen sich an. Haustiere hatten beide, Frank eine Ratte und Anton zwei Meerschweinchen. Katzen und Hunde konnten Haustiere sein, Fische, Vögel… was aber hatte mit einem Hundehaufen und Haustieren zu tun? Hundehalter nahmen die Hinterlassenschaften ihrer Lieblinge nicht regelmäßig mit, schon gar nicht ins Weltall. Anton prustete.
„Stell dir mal vor, die Leute vom Ordnungsamt würden das ins Weltall ballern.“
Frank grinste.
„Jeden Tag zehn Raketen voll Dreck.“
„Blödsinn“, hörten beide Jungen in ihren Köpfen. Sie erschraken.
„Hast du das auch gehört?“
„Blödsinn, hat es gesagt.“
„Wir hören es beide, irre.“
Die Jungen blickten auf die Wiese. Eine der Staubflusen war zurückgekehrt.
„Wieso hören wir dich beide?“ fragte Anton.
„Ich habe beide Scannings meiner Kollegen addiert“, hörten beide. „Das ist nicht ganz einfach, aber es spart Zeit, wenn wir euch beiden ein für alle mal klar machen, daß das hier keine Spielwiese ist.“
Anton wurde wütend. Was erlaubte dies Ding sich eigentlich?
„Es ist eine Lichtung in einem Landschaftsschutzgebiet“, sagte er mutig, „und wenn wir schon mal dabei sind, wie kommst du dazu, hier zu landen?“
„Wo sollten wir denn sonst landen?“ schimpfte die Kopfstimme, „Bißchen viel Greenpeace-Propaganda gelesen, was?“
Frank zuckte zusammen. Das ging entschieden zu weit, das Ding konnte nicht einfach Greenpeace in den Dreck ziehen, das tat keiner von ihnen.
„Du vergißt, daß ich Zugriff auf eure Erinnerung habe“, tönte es. „Einer von euch muß es mal gehört haben.“
Anton schlug mit der gehöhlten Hand auf das Gras.
„Laß das!“ hörten beide.
„Ich denke nicht daran“, sagte Anton ruhig und hob triumphierend die geschlossene Hand. „Hör auf uns zu nerven, sag, was ihr hier macht, zeig uns das Raumschiff, dann lasse ich dich los.“
Frank pfiff bewundernd durch die Zähne. Gleichzeitig kamen ihm Bedenken.
„Anton, das ist Geiselnahme“, sagte er.
Der zuckte die Achseln.
„Weiß ich. Aber willst du etwa keine Antwort?“ Frank nickte ergeben.
„Also, was ist?“
Die Antwort kam sofort, sehr schnell, in panischem Tonfall:
„Laß mich sofort raus, ich sag alles, laß mich raus!“
„Ich glaube nicht, daß du Sauerstoff brauchst. Du kannst also in meiner Hand ganz gut eine Weile bleiben. Was macht ihr hier?“
„Es ist verdammt unangenehm in deiner Hand“, jammerte das Ding. „Du hast dir seit Stunden nicht die Hände gewaschen, und du schwitzt.“
„Ich weiß“, sagte Anton ruhig. „Je eher du antwortest, desto schneller bist du frei.“
„Also gut“, hallte es ergeben, „sag deine Bedingungen.“
„Kennst du schon“, sagte Anton kühl, „sagen, was ihr hier macht und warum, Raumschiff zeigen und erklären, und schon bist du frei.“
„Halt, noch was“, rief Frank, „versprich, daß du hier abziehst und keinem was tust. Niemals, klar?“
„Ich nehme an, du meinst: keinem Menschen?“
„Genau. Aber auch keiner Ratte, keinem Meerschweinchen, überhaupt niemandem.“
Die Stimme hatte sich erstaunlich schnell wieder gefangen. Sehr schulmeisterlich erklärte sie:
„Also, Punkt eins: Falls ihr es noch nicht gemerkt habt, finden wir Menschen eher lästig. Je weniger wir mit ihnen zu tun haben, desto besser. Sie interessieren uns nicht, stören eher. Punkt zwei: Wir betreiben Haustieraquise. Wenn ihr das wirklich verstehen wollt, müssen wir euch - Punkt drei - wohl das Raumschiff zeigen. Geht direkt unter das Schiff.“
Die Jungen sahen sich an, nickten sich zu und gingen langsam und leicht gebückt zwischen die Säulen.
„Habt ihr da drin auch Luft?“ fragte Anton vorsichtig.
„Klar haben wir.“ Die Stimme klang überheblich und ungeduldig. „Wir lassen unsere Haustiere doch nicht verrecken.“
Einen Eingang sahen die beiden nicht.
„Moment“, hallte es.
Eine Fluse schwebte genau in der Mitte des Raumschiffs auf und ab. Die Außenhaut bekam eine kleine Beule, die innerhalb einer Minute schlauchartig wuchs, bis sie den Boden erreichte.
„Haltet euch beide mit beiden Händen fest“, kommandierte die innere Stimme.
Zögernd gehorchten die Jungen. Anton hielt die Fluse mit Ring- und Mittelfinger fest und schloß die übrigen Finger etwas verkrampft um den Schlauch.
Mit einem unglaublichen Ruck wurden sie emporgeschleudert, durchdrangen den Boden des Raumschiffs - er fühlte sich wie warmes Wasser an, sie blieben aber trocken -, flogen durch einen bläulich erleuchteten Raum und landeten wieder auf dem seidigen Material, das hier auf der Innenseite wie ein Trampolin nachgab. Sie wurden noch zwei-, dreimal hochgeworfen und blieben schließlich keuchend, aber unverletzt liegen.
Der Raum war groß, aber zu niedrig, um aufrecht zu stehen. Auf allen Vieren konnten sie sich ganz bequem fortbewegen. Und er war völlig leer.
„Was soll denn das hier?“ schimpfte Frank.
„Dies ist die Schleuse für größere Transportgüter“, informierte die Stimme. „Für den Haupteingang seid ihr zu fett.“
„Na toll“, brummte Frank und nahm sich fest vor, abzunehmen.
„Stillhalten“, befahl die Stimme.
Im Raumschiff schien sie immer selbstbewußter zu werden. Die Jungen rückten zusammen.
„Wir geben einen tollen Anblick“, murmelte Anton und versuchte, zu grinsen, als sie dicht nebeneinander auf Händen und Knien kauerten, er mit krampfhaft geschlossener Hand.
Nun öffnete sich die Decke über ihnen, und sie wurden wie von einem riesigen Staubsauger hochgezogen. Unter ihnen schloß sich das Loch, der Sog brach ab, und sie fielen wieder auf eine weiche, federnde Unterlage. Dieser Raum war kreisrund und leer wie der vorige, aber hoch genug zum Stehen und grünlich erleuchtet. Ein leises Summen kam von der umlaufenden Wand. Frank ging leicht schwankend auf die Wand zu. Anton folgte ihm zitternd. An der Wand blieb Frank plötzlich stehen und sagte nur:
„Oh, Mann.“
Als Anton den Grund begriff, würgte es ihn leicht. Die ganze Wand des runden Raumes war von unten bis oben mit gläsernen Behältern vollgestellt. In allen schwirrten grünschillernde Fliegen, saßen auf weggeworfenen Butterbroten, abgenagten Hühnerbeinen, fauligem Obst, Kuchenresten…
„Unsere Haustiere“, sagte die Stimme nicht ohne Stolz. „Ein Luft-Generator steht für sie bereit. Nur wegen der Nahrungsbeschaffung müssen wir gelegentlich wiederkommen.“
„Ihr haltet Fliegen?“ schrie Frank.
„Wie du siehst.“ Die Stimme klang amüsiert.
„Aber warum? Ich meine, alles mögliche kann man als Haustier halten, aber Fliegen?“
Die Stimme klang verständnislos:
„Was hast du gegen Fliegen? Sie sind schön, sie fühlen sich gut an, und dann - die Flügel.“
„Was ist mit den Flügeln?“ wollte Anton wissen.
Die Stimme wurde schwärmerisch.
„So zart, so glatt, und sie tragen das ganze Tier, sie halten extreme Temperaturen aus, sie sind - ach, reinste Wunder!“
„Fliegen fressen Hundedreck!“ hielt Anton empört dagegen.
„Und Aas!“ rief Frank.
„Sie schillern in der Sonne wie kostbarer Schmuck!“
Anton sah Frank an.
„Denkst du manchmal sowas?“
„Nee, du?“
„Und hast du sowas schon mal irgendwo gehört?“
„Nie.“
Anton nickte und fragte überdeutlich:
„Und woher hat das Ding dann diese Ausdrucksweise?“
„Zunächst mal“, hallte es in beiden Köpfen, „bin ich kein Ding. Die korrekte Bezeichnung meiner Person übersteigt eure geistigen Fähigkeiten.“
„Blöder Affe“, dachte Frank.
Die Fluse ignorierte das.
„Weiterhin habt ihr euch glücklicherweise mehr gemerkt, als euch augenblicklich bewußt ist. Und schließlich verfüge ich schon über eine Stunde lang über das Scanning eurer beiden Hirninhalte - ich habe gelernt, mit der gespeicherten Sprache umzugehen.“
„Nicht besonders gut“, sagte Frank nach einer peinlichen Pause. „Du bist unfreundlich, eitel und arrogant, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
Anton warf ihm einen bewundernden Blick zu. Frank fuhr fort:
„Über Fliegen kannst du toll reden, und irgendwie gebe ich dir sogar recht, sie sind auf ihre Weise hübsch.“
Anton schauderte und wollte etwas einwenden, aber Frank redete weiter:
„Sie sind trotzdem eklig. Und jetzt zeig uns die Technik in diesem blöden Raumschiff.“
„Versteht ihr ja doch nicht“, hallte es.
„Zeig her“, forderte Anton.
„Meinetwegen. In die Kuppel könnt ihr aber nicht, dazu seid ihr zu fett.“
Quer durch den Raum zog sich plötzlich wie auf einer Leinwand, aber durchscheinend, das Bild eines weißen, kreisrunden, flachen Tisches, auf dem vier Staubflusen hin und her waberten.
„Unsere Techniker bei der Arbeit“, informierte die Stimme.
„Vergrößern können wir allerdings nur durch eine besondere Maßnahme.“
„Na, dann nimm halt besonders Maß“, ätzte Frank.
Gleich darauf hielt er sich die Hände vors Gesicht und schwankte leicht. Das Bild war plötzlich riesenhaft geworden - gleichzeitig aber auch der Raum. Die Gläser an den Wänden hatten die Größe von Mülleimern, und die Fliegen die von Pitbulls.
„Eine vorübergehende Manipulation eurer Sehzentren.“
„Oh, Mann“, sagte Frank.
Anton sagte gar nichts. Er war etwas grün im Gesicht. Tief atmen, befahl er sich, und dann sah er: Der weiße Tisch war mit einer Unmenge winziger Erhebungen übersät. Die Techniker-Flusen berührten diese Erhebungen beim Auf- und Abwabern ganz zart und brachten sie jedesmal kurz zum Aufleuchten.
„Ein Schaltpult“, staunte er.
„Wesentlich komplizierter als was du so im Kopf hast über Schaltpulte“, höhnte die Stimme.
Dann wurde das Bild wieder klein, auch der Raum und die Fliegen schrumpften auf ihr normales Maß.
„Danke“, murmelte Frank. „Länger hätte ich das nicht ausgehalten.“
Anton nickte.
„Wollen wir gehen?“ fragte er gepreßt. „Das Ding hat die Bedingungen erfüllt. Ich muß es freilassen.“
Er öffnete die Hand.
Sofort wurden die beiden in den unteren Raum gesogen. Dort gab der Boden unter ihnen nach und leierte aus wie ein Strumpf, sie hingen am unteren Ende eines wachsenden Schlauches, bis sie den Waldboden berührten, der Schlauch sich öffnete und zurückschnappte wie ein Gummiband. Gleich darauf wurden die Säulen von dem bewegungslos in der Luft stehenden Raumschiff eingezogen. Das geschah völlig lautlos. Nun hallte es in beiden Köpfen:
„Ich denke, das wars. Fliegen haben wir, eure Bedingungen sind erfüllt. Wenn wir wiederkommen, suchen wir uns einen menschenleeren Platz. Obwohl es ganz nett war, eure Sprache zu lernen.“
Dann zischte es leise, und schneller als die Jungen sehen konnten, war das Raumschiff in der Himmelsbläue verschwunden.
Anton rappelte sich auf.
„Gehen wir“, sagte er.
Frank folgte ihm. Er grinste schwach, als er das runde Loch im Grasboden sah.
„Der Hundehaufen ist wenigstens auch weg.“
„Ja“, knurrte Anton. „Und die Wiesenchampignons haben sie mitgehen heißen.“
Kein einziges weißes Hütchen war auf der Lichtung zu sehen.
„Wieso die Champignons?“ wunderte sich Frank.
Anton zuckte die Schultern.
„Ist das nicht klar? Sie haben ein Pfund Champignons ins All geschossen - um Fliegen zu füttern.“
Schweigend radelten die beiden los.
„Toll war es aber schon“, sagte Frank schließlich.
„Ja“, muffelte Anton. „Glaubt uns bloß keiner.“
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 03.06.2012 17:42von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Die Teetasse
Es war einmal eine blau geblümte Teetasse, die war aus der Mode gekommen und außerdem behindert, denn sie hatte nach einem schweren Sturz einen Sprung und keinen Henkel mehr. Deshalb stand sie nicht mehr im Vitrinenschrank oder auf dem Teetisch, sondern unter einem Heizungsventil, das stündlich zwölf Tropfen Wasser entließ.
Tropfenweis lauwarmes Brackwasser ist schlimm für eine Teetasse, die feinsten Assam und Darjeeling gewohnt ist, den rauchigen Geschmack von Lapsang Souchong schätzt und den blumigen Duft von Earl Grey. Die Diele unter ihr versicherte ihr zwar, sie sei der nettesteTropfenfänger, der ihr jemals das Wasser vom Leibe gehalten habe, aber die Diele war nordische Kiefer und ziemlich astig, und die Tasse fühlte sich von ihrer naturburschenhaften Derbheit peinlich berührt und dankte nur mit herablassender Höflichkeit. Die Heizung war ihr vollends peinlich, sie rülpste und blubberte zuweilen und erzählte unbekümmert von ihren Hitzewallungen und der schweren Verdaulichkeit russischen Erdgases.
Die Tasse schwieg hochmütig und dachte an das zarte Klingeln von Kandis und das schmeichelnde Gefühl, wenn die Sahnetröpfchen sich in ihre feinen Poren schmiegten. Das Wasser tropfte beharrlich in sie.
Plötzlich hörte sie ein leises, wohliges Seufzen in ihrem Inneren. "Hach", klang es, "hach, hier isses schön." Die Tasse erschrak. "Wer ist dort?" fragte sie bang, und die zarte, schläfrige Stimme antwortete: "Ich bin da. Hach, isses schön." "Wer sind Sie?" fragte die Tasse, "Und wo genau sind Sie?" "Ich bin ich. Ich bin in der nassen Welt." "In der nassen Welt?" fragte die Tasse, "Meinen Sie, im Wasser?" "Nasse Welt. Nur hier, wo ich bin, ist nasse Welt. Nur wo nasse Welt ist, bin ich." Die Tasse fühlte einen weiteren Tropfen in sich fallen, und die Stimme seufzte behaglich. "Infusorium", sagte sie. "Ich bin das. Ein Infusorium."
"Ich bin eine Teetasse", sagte die Teetasse, "und ich habe schon oft Nässe aufgenommen und abgegeben. Aber einem Infusorium bin ich dabei noch nie begegnet." "Manche Nässe ist heiß", sagte das Infusorium. "Die mag ich nicht." "Guter Tee muß kochend heiß sein", dozierte die Tasse. "Nässe muß lau sein", widersprach das Infusorium. "Lau ist gut."
Die Tasse schwieg. Das Infusorium schien nicht besonders gewitzt zu sein, die Diele war ein Prolet, und sie hätte lieber einen Hammer als die Heizung in ihrer Nachbarschaft gehabt. Sie schwieg und langweilte sich mehrere Tage lang. Das Infusorium seufzte gelegentlich wohlig, die Diele knarzte ein paar Worte über die unermeßlichen Wälder, zu denen sie ursprünglich gehörte, die Heizung blubberte freundlich, und ganz selten meldete sich sogar die zarte Stimme des Erdgases, das aber stets nur sagte "Hach, hach... Erdentiefe... hach" (und dagegen war das Infusorium noch spritzig).
Irgendwann kam der Klempner und wechselte das Heizungsventil aus. Das neue Ventil war streng und hielt dicht, und die Tasse landete gemeinsam mit dem alten Ventil im Müll. Ich glaube aber nicht, daß sie sich noch angefreundet haben. Angeblich soll die Tasse im Mülleimer gesagt haben: Sic transit gloria mundi. Und solche Leute reden nicht mit Heizungsventilen, nicht einmal dann, wenn ihnen der Henkel fehlt.
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 09.02.2013 08:47von Leselust • | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte
Hier ein neues Märchen von mir; ich bin mir noch nicht sicher, ob der Schluß so bleiben kann.
Die hässliche Prinzessin
Es war einmal eine Prinzessin, die war klug und liebenswürdig, sangeskundig und belesen, ganz wie eine Prinzessin sein soll - oder doch fast ganz. Denn leider fanden die Leute sie hässlich.
Sie hatte kleine Augen, eine Knollennase und ein Doppelkinn und bewegte sich auf ihren kurzen Beinen ohne besondere Anmut. Zu ihrem Unglück waren ihre Eltern und ihre beiden Schwestern berühmt für ihre elfenhafte Schönheit. Zudem war der König gerecht und die Königin freundlich, und alle Welt meinte, Schönheit und Güte gingen Hand in Hand, so müsse es sein. Prinzessin Sophie aber hieß im ganzen Land nur Sophie die Hässliche.
Prinzessin Sophie versuchte alles mögliche, um sich zu verschönern. Sie nahm Unterricht in Tanzen, Reiten und Gymnastik, lernte, sich zu schminken, damit die Augen größer wirkten und die Nase kleiner erschien, ließ sich schöne Kleider nähen, die ihre kurzen Beine kaschieren sollten - aber sie sah im Spiegel nur allzu deutlich, daß alles umsonst war und sie nicht einen Deut schöner wurde.
Ihre Schwestern konnten sich vor Bewerbern kaum retten und heirateten kurz hintereinander je einen stattlichen Prinzen. Sophie war einerseits froh darüber, denn nun mußte sie nicht mehr jeden Tag ihre schönen und eleganten Schwestern sehen und mit ihrer eigenen unschönen Gestalt vergleichen. Andererseits fühlte sie nun umso mehr, wie allein sie war - kein Prinz hatte auch nur in Erwägung gezogen, sie näher anzusehen.
Sophies siebzehnter Geburtstag nahte, und immer wieder wurden verschiedene wohlverschnürte Dinge geliefert und an einen geheimen Ort getragen. Aufregende Vorfreude erfüllte Sophie; sie träumte von der Erfüllung ihrer kühnsten Wünsche.
An ihrem Geburtstagsmorgen schminkte und schmückte sie sich mit besonderer Sorgfalt. Doch vor Aufregung brach ihr der Schweiß aus, die Schminke begann zu jucken und die Halskette zu scheuern. So legte sie den Schmuck ab, wusch sich mit klarem Wasser und erschien zum Frühstück elegant gekleidet, aber in unverstellter Hässlichkeit (noch dazu mit gerötetem Gesicht). König und Königin sahen bedenklich drein und riefen den Hofmedicus, der aber versicherte, die Prinzessin habe mit dem Abschminken und Abschmücken das aus ärztlicher Sicht Sinnvollste getan, und die Rötung werde unter diesen Umständen noch vor Mittag zurückgehen.
Nach dem Frühstück zog ein Diener die seidene Decke vom Gabentisch. Zahlreiche Verwandte und auch die Schwestern hatten Gaben gesandt - der Tisch war übersät mit Kleidern, Tüchern, Schmuckstücken und Schminktöpfchen. Als wohlerzogene Prinzessin brachte Sophie ein dankbares Lächeln zustande, aber ganz konnte sie ihre Enttäuschung nicht verhehlen. Es schien, als bekomme sie nur Dinge, die ihre Hässlichkeit verbergen sollten.
Erst unter dem fünften Seidenkleid entdeckte sie ein Geschenk, das sie aufjubeln ließ. Es war ein altes Buch mit Goldschnitt in einem schon etwas abgegriffenen Ledereinband. Beim ersten Durchblättern fiel ein Kärtchen heraus, auf dem in schwer leserlicher Handschrift stand: Für die kluge Prinzessin in großer Verehrung.
Kein Name stand dabei, und niemand wußte, von wem dies Geschenk stammte. Sophie durchblätterte das Buch; es war der Bericht eines Weltreisenden. Bilder von fremdartigen Landschaften, ungewöhnlichen Tieren und von Menschen in sonderbaren Trachten schmückten das Buch. Sophie hätte sich gerne damit in ihr Zimmer zurückgezogen und nur noch gelesen und geschaut, aber sie musste auf den Balkon treten und sich dem Volk zeigen.
Bang und traurig ging sie hinauf, zwang sich zu einem Lächeln und winkte den Menschen, die sich auf dem Schlosshof drängten. Der Jubel der Leute klang schrill, und irgendjemand krähte: "Lang lebe Sophie die Schöne!" Viele lachten, und Sophie fühlte, wie ihr Gesicht sich wieder rötete - diesmal vor Scham und Zorn.
Mit Tränen in den Augen verließ sie den Balkon, rannte in den Speisesaal, nahm das Buch vom Gabentisch, wischte dabei in einer Mischung aus Zorn und Achtlosigkeit ein Seidenkleid zu Boden und verzog sich in ihr Zimmer.
"Lass sie", sagte die Königin zu ihrem Gatten, der ihr nachstürmen wollte. "In einer Stunde muß sie ihr Fest eröffnen, sie kann jetzt ein wenig Ruhe brauchen." Der König brummte etwas, das nach "undisziplinierter Göre" klang, aber er fügte sich. Aber die Zeit verstrich, und Sophie zeigte sich nicht wieder. Endlich ging die Königin zu ihr und sagte noch in der Türe: "Das Fest soll gleich beginnen, Sophie, komm!" Sophie aber saß an ihrem Tisch und las. Ihre Augen waren noch etwas verweint, aber sie lächelte und schien ihre Mutter gar nicht wahrzunehmen.
"Sophie, komm jetzt!" Das klang gereizt, und Sophie seufzte.
"Ich lese aber so gerne."
"Das ist jetzt wirklich nicht der Augenblick zum Lesen."
"Meinetwegen. Ich komm schon. Nur noch diese Seite zu Ende."
"Sofort! Lesen kannst du später."
"Ich muß ja wohl."
Sophie stand auf, strich ihr Kleid glatt und ging mit der Mutter zum Festsaal.
"Du mußt jetzt eine kleine Ansprache halten", sagte die Mutter.
Sophie erschrak, aber nicht allzu tief - zu erfüllt war sie noch von dem wunderbaren Geschenk.
"Ich habe keine Rede vorbereitet", gab sie zu.
"Du wirst eine halten", bestimmte die Mutter. Sie war sicher, daß man tun kann, was immer man unbedingt tun muß - und eine Prinzessin muß nun einmal an ihrem siebzehnten Geburtstag eine Rede halten, das war schon immer so und kann nicht geändert werden.
Die Verwandten und engsten Freunde des Königshauses standen in dem goldprunkenden Saal und lächelten Sophie an. Bei Sophies Schwestern und ihren vornehmen Ehemännern wirkte das nicht weniger gezwungen als bei den meisten anderen. Nur hier und da sah Sophie ein Lächeln, das sie wärmte. Sie erinnerte sich an Reden aus einem Schulbuch und ging im Kopf eine Musterrede durch, die eigentlich von gar nichts handelte, aber nett klang.
Ein blumengeschmücktes Podest war aufgebaut, und die Königin bedeutete Sophie, sie müsse nun ihre Rede halten. Sophie die Hässliche stand da in ihrem schönen Kleid, mit immer noch leicht gerötetem Gesicht, ungeschminkt und ungeschmückt, überblickte die prächtige Menge der Gäste und erspähte ganz hinten in einer Ecke einen schönen, freundlich blickenden jungen Mann in der einfachen schwarzen Tracht der Gelehrten.
Sophie holte tief Luft und begann:
"Meine Damen und Herren, ich danke für Ihren Besuch.
Ich habe mir nicht ausgesucht, Prinzessin zu sein, und auch nicht, heute siebzehn Jahre alt zu sein. Es ist mir so zugefallen, und ich hätte es mir selbst vielleicht anders gewünscht. Aber wir wissen alle, daß die meisten Wünsche nicht in Erfüllung gehen.
Heute aber wurde mir ein Wunsch erfüllt, den ich gar nicht ausgesprochen hatte, und ich weiß nicht einmal, von wem. Vieles Schöne und Nützliche habe ich bekommen, und einen besonderen Schatz.
Es ist ein Buch, ein wunderbares Buch, das ferne Länder und sonderbare Sitten beschreibt und Tiere, die wir auch in unserer Menagerie niemals hatten, und vor allem die vielfältigen Arten zu leben und zu denken und zu dichten. Es ist ein wunderschönes Buch, und ich bin dem unbekannten Geber sehr, sehr dankbar!
Wenn ich einmal Königin sein werde, will ich alles tun, damit alle Bürger dieses Landes Bücher haben, schöne und spannende und lehrreiche Bücher."
Die Gäste schwiegen einen Augenblick nach dieser ungewöhnlichen Rede. Einige lächelten etwas verlegen und wußten nicht recht, was sie davon halten sollten. Aber der Mann in der Gelehrtentracht warf die Arme hoch und rief:
"Lang lebe Sophie die Kluge!"
"Lang lebe Sophie die Kluge!" stimmte jemand aus einer anderen Ecke des Saales ein, und dann noch einer, und schließlich skandierten auch die, die gar keine Bücher kannten: "Lang lebe Sophie die Kluge!"
Sophie lächelte verlegen und sah hinüber zu dem jungen Gelehrten. Der lächelte auch und nickte ihr fast unmerklich zu.
[ Editiert von Leselust am 13.02.13 14:23 ]
RE: Claudia Sperlich: kleine Märchen
in Märchenschreiber 12.02.2013 20:54von Gemini • | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte
Ich finde es sehr schön, gelungen - und das Ende ist absolut richtig, darf nur so sein - wenn Du WIRKLICH ein Märchen mit "höherer Wahrheit" und allen seinen heilenden Bestandteilen erzählen willst.
Einzig am Anfang wünschte ich mir, dass die "Hässlichkeit" nicht so als gegeben erzählt würde. Nicht jeder entspricht einem Schönheitsideal, aber deshalb ist er noch lange nicht hässlich, nur weil er nicht so gefällig wirkt wie andere. Hässlich ist mit Hass verwandt - ist also eher eine Charaktersache.
Statt:
Es war einmal eine Prinzessin, die war klug und liebenswürdig, sangeskundig und belesen, ganz wie eine Prinzessin sein soll - oder doch fast ganz. Denn sie war leider hässlich.
wäre für mein Empfinden hier richtiger:
Es war einmal eine Prinzessin, die war klug und liebenswürdig, sangeskundig und belesen, ganz wie eine Prinzessin sein soll - oder doch fast ganz. Denn sie schien den Leuten hässlich zu sein.
----
Kleinigkeiten noch: Bücher werden ja nicht in brüchiges Leder gebunden, das war bestimmt ein altes, in Leder gebundenes Buch
und in der Rede der Prinzessin heißt es:
Vieles Schöne und Nützliche habe ich bekommen, aber einen besonderen Schatz.
Hier fände ich besser:
Vieles Schöne und Nützliche habe ich bekommen,und einen besonderen Schatz.
Ansonsten - bin fast neidisch, dass es nicht von mir ist - so gut gefällt es mir.
Liebe Grüße
Bettina
Rezitante und Musäusfan-ny
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Die kleine Moorhexe von Bernadette Reichmuth Erstellt im Forum Bücher von Gemini | 0 |
02.04.2012 13:37 von • Zugriffe: 634 |
das schönste Geschenk Erstellt im Forum Cafe´ von Gemini | 5 |
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Eine Neufassung der "Kleinen Seejungfrau" Erstellt im Forum Andersenmärchen von Leselust | 3 |
09.08.2010 11:18 von • Zugriffe: 1267 |
Die drei Lichter der kleinen Veronika Erstellt im Forum Bücher von Gemini | 0 |
31.12.2007 09:59 von • Zugriffe: 1219 |
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