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#16

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 17.08.2010 23:06
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

Rauhchen, für mein Verständnis hast Du da durchaus pietistische, evangikale Grundsätze aufgeführt.

Und ja, ich hasse das Märchen "Die roten Schuhe". Das ist sowas von quäkerhaft verbissen, das kommt nicht über meine Lippen.

Psychologen werden da bestimmt die Mutter - und Schwesterproblematik des Andersen erkennen wollen. Aber ich bin ja keiner, ich kann das fies finden und abhaken.
*Tratschmodus an*
Andersens Schwester soll sich ja im Elend prostituiert und später auf einem Dachboden erhängt haben, gar nicht weit von seiner Wohnung.
*Tratschmodus wieder aus*


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#17

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 14:15
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Das mit Andersens Schwester/Halbschwester habe ich auch mitbekommen, ein Großvater ist übrigens wahnsinnig geworden. Andersen hatte jede Menge Angst vor sich selbst aufgrund seiner Herkunft. Nicht nur wegen der öffentlichen Meinung, sondern weil er fürchtete,erblich belastet zu sein. Lediglich den Alkoholismus seiner Mutter hat er in einem Märchen sehr empathisch thematisiert.
Das Mädchen mit den roten Schuhen habe ich schon als Kind für ein dummes Märchen gehalten.
Ich liebe übrigens Rot und trage es gerne- obwohl ich inzwischen darin aussehe wie die preisgekrönte Riesentomate vom Gärtnerverein (gut 90 Kilogrämmchen).


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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#18

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 14:25
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

wir sind ja beide schon länger erwachsen Rauhchen, kennst Du das auch noch, dass rote Schuhe und rote Handtaschen verpönt waren, weil es angeblich Nuttenschuhe bzw. -taschen waren?
Genauso, wie Kleider im Fenster lüften, das zeigte auch an, hier kann man kaufen...

viele dieser Sozialcodes in den Märchen versteht man gar nicht mehr ohne Erklärung von dem, was früher gängiges Wissen war.

Ich finde das bei der klugen Gretel der Grimms so niedlich gelöst.
Da heißt es doch:

Zitat
Es war eine Köchin, die hieß Gretel, die trug Schuhe mit roten Absätzen, und wenn sie damit ausging, so drehte sie sich hin und her, war ganz fröhlich und dachte »du bist doch ein schönes Mädel.



- sind ja nicht die ganzen Schuhe rot, das scheint eine freundliche Umschreibung zu sein für ein "leichtlebiges Frauenzimmer", das was man früher "Flittchen" nannte.

Heute gibt es ja eine Unterschichtenjugendkultur, die das "Flittchen" kultiviert - mir tun diese fehlgeleiteten Menschen leid, die sich das Leben planlos öde machen und die Chance auf Erfahrung wirklicher Liebe kaputt machen.


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#19

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 15:57
von Leselust | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte

Allerleirauh, in der Tat: Robert Reinick - den ich bisher noch nicht kannte - ist süßlich. Irgendwie niedlich, aber nicht mehr, zumindest nach dem, was ich auf die Schnelle übers Netz herausgefunden habe.

Und die Roten Schuhe - natürlich wandeln sich Moden und ihre Aussagen. (So galt die Benutzung von Lippenstift in der Jugend meiner Mutter noch als zumindest leichtfertig.) Aber dennoch - wir sind uns über dies Märchen recht einig, ich lese das auch nicht vor.

Übrigens kann ich mich an derartig rigide Dresscodes nicht erinnern und bin ja auch nicht mehr in meiner Jugend Maienblust. Aber das mag z.T. auch in der diesbezüglichen Freiheit liegen, die mir von meinen Eltern gewährt wurde.

Die Geschichte über Andersens Schwester kenne ich, weiß aber nicht, wieviel davon der Wirklichkeit entspricht. Und vermutlich wird man es nie wissen - zuviel Möglichkeit der verklemmten und böswilligen Verzerrung hat es gegeben.

[ Editiert von Leselust am 18.08.10 15:58 ]

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#20

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 17:01
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Ganz grauslich war diese "Girlie" Getue in den Neunzigern.
Da wurde platte Frechheit mit Emanzipation verwechselt.
Ich finde, Mädchen brauchen eine Zeit des Reifens.Da gibt es aber eben auch Phasen, in denen schon mal probeweise in die roten Schuhe geschlüpft wird, obwohl diese noch zu gross sind. Ich bewundere jeden Mann, der die Reife hat, das zu erkennen und die jungen Fräuleins weder aburteilt noch ausnutzt. Es ist nichts anderes als die gelegentliche Ruppigkeit halbwüchsiger Jungs. Es wird einfach nur Erwachsensein geübt.


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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#21

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 17:03
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Rote Schuhe haben - wie elegante Frauenschuhe überhaupt- schon eine starke erotische Symbolik. Gerade im Märchen wird damit etwas umschrieben, dass man nicht so direkt ausdrücken konnte.


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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#22

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 18.08.2010 21:48
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

rote Schuhe, meine Mutter hat meine noch mit einem Schulterzucken betrachtet, meine Oma war empört. Kurz um, für Leute BJ 1900 bis 1920 war es noch ein starkes Symbol mit ungewollter Botschaft.
Für mich war es das modisches Zubehör, nach dem ich die restliche Kleidung ausrichtete.
Ach, was war ich gern eitel, wie die kluge Gretel...


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#23

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 23.08.2010 15:42
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Andersen und Religion in anderem Zusammenhang
Andersen soll nicht allzuviel von Kierkegaard gahalten haben.
Ich habe mal gelesen, der Papagei und der Kanarienvogel in den Galoschen des Glücks stellen Andersen und Kierkegaard dar.
Kierkegaard hat ja das Bild der Hausgänse und der wildgänse in seinem Werk benutzt, der Papagei war demnach eine Persiflage darauf. Weiss jemand Genaueres?
Von der Persönlichkeit scheinen mir Andersen und Kierkegaard gar nicht so unähnlich.

[ Editiert von Allerleirauh am 23.08.10 15:42 ]


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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#24

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 24.08.2010 20:23
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

weiß ich nichts drüber, bin jetzt aber sensibilisiert für das Thema. Halte Kirkegard aber für philosophischer.
Hach Rauhchen, ich liebe doch so Animositäten unter Künstlern, auf die Art bekommt man noch heute gut mit, wie die Leute getickt haben und so Befindlichkeiten kitzelten oft Gutes aus ihnen heraus.


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#25

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 24.08.2010 20:32
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

schau mal, was ich gefunden habe:


03.04.2005
Hans Christian Andersen. Eine Biographie (Bild: Insel, Frankfurt) Hans Christian Andersen. Eine Biographie (Bild: Insel, Frankfurt)
Mehr asketisch als sexuell
Biographie über Hans Christian Andersen
Von Christoph Bartmann

Hans Christian Andersen verliebte sich eher in Männer als Frauen. Diese Vorliebe muss aber aus den Voraussetzungen seiner Zeit verstanden werden. Zum Menschenbild der Romantik gehörte die platonische Liebe. Auch Andersen war eher asketisch als sexuell. Nun ist eine lesenswerte Biographie über den dänischen Nationaldichter erschienen.

Die Aufklärungsepoche liebte die Vorstellung vom "natürlichen Kind", von Wolfsjungen und anderen Findlingen, die durch wundersame Fügung vom menschlichen Zivilisationsprozess verschont geblieben waren und nun ihren staunenden Entdeckern ein Bild vom Urzustand der Menschennatur gaben. "Peter of Hanover", ein Findelkind am Hofe König Georgs I. war ein solcher Fall aus dem Geist Jean-Jacques Rousseaus, der "wilde Knabe von Aveyron" - François Truffauts "Wolfsjunge" ein anderer, ehe mit Kaspar Hauser im Jahre 1828 die Ära der Naturkinder zu Ende geht. Man sollte diese Beispiele vor Augen haben, um zu begreifen, was im September 1819 in Kopenhagen geschah. Da klopft bei Just Mathias Thiele, einem Dichter und Sammler von Märchen und Sagen, ein merkwürdiger Jüngling an die Tür:

"'Herein!' rief Thiele, der mit dem Rücken zur Tür saß und sich nicht beim Schreiben stören ließ. Es klopfte noch einmal, diesmal heftiger, dann ging die Tür auf und herein trat, ja, fiel beinahe, ein langer, magerer junger Mann von höchst sonderbarem Aussehen. Er blieb an der Tür stehen und sah Thiele an, dann warf er plötzlich seinen Hut zur Seite und breitete die Arme aus: 'Darf ich um die Ehre bitten, meine Gefühle an diesem Ort in einem Gedicht auszudrücken, das ich selbst geschrieben habe?'

Bevor Thiele überhaupt antworten konnte, sagte der Besucher bereits sein Gedicht auf. Er beendete den letzten Vers mit einer hastigen, tiefen Verbeugung, und ohne jegliche Unterbrechung oder Einleitung folgte die Aufführung einer Szene aus Adam Oehlenschlägers Stück Hagbarth und Signe, in der der Vortragende alle Rollen selbst übernahm. Thiele saß mit offenem Munde da, völlig überrumpelt und verblüfft. Seine unmittelbare Umgebung nahm dieser Bursche offensichtlich nicht mehr wahr, immer tiefer geriet er in seine improvisierte Theaterwelt. Hastig spielte er die Szene zu Ende, und der Epilog, der die ganze Vorstellung abrundete, wurde mit einer tiefen, theatralischen Verbeugung beschlossen. Dann griff der Junge zu seinem Hut und verschwand ohne ein Wort über die Treppe."

Mit diesem allerersten Auftritt, mit dieser Urszene des Künstlers Hans Christian Andersen lässt Jens Andersen seine Biographie beginnen. Nicht also mit Andersens Geburt in Odense auf der Insel Fünen vierzehn Jahre zuvor, und nicht mit seiner problematischen Herkunft, die Andersen selbst gern verklärte. Am 6. September 1819 ist Andersen als sogenannter "blinder Passagier" mit der Postkutsche in Kopenhagen angekommen, das heißt, er hat den billigsten Tarif bezahlt und muss bereits vor dem Erreichen des Stadttores aussteigen, genauer auf dem Hügel von Frederiksberg, von wo aus sich ihm ein umfassendes Panorama seiner Traumstadt bietet. Kopenhagen, das ist zu dieser Zeit eine zwar imposante, doch von Kriegen und dem nachfolgenden Staatsbankrott schwer mitgenommene Stadt, die auf viel zu engem und überdies von einer mittelalterlichen Wallanlage eingezäuntem Raum viel zu viele Menschen und noch mehr Tiere beherbergt und deshalb von einer Epidemie nach der anderen heimgesucht wird. Trotzdem wird man die Epoche, in die Andersens Ankunft fällt, später das "Goldene Zeitalter" nennen. Die Friedensjahre zwischen 1815 und 1848 sind zwar Jahre der politischen Restauration, doch zugleich eines enormen Aufschwungs der Künste und der Wissenschaften.

Auf einen Knaben wie Hans Christian Andersen hat, wie es aussieht, das geistige Kopenhagen, sehnlich gewartet. Endlich einmal kein Höfling, kein Akademiker, kein Salonlöwe, sondern ein Landkind, das nichts weiter will als, so hat es ja selbst zu Thiele gesagt, "seine Gefühle ausdrücken". Dichten und deklamieren will das Kind, schauspielern und tanzen, oder, in Andersens eigenem Wort, "improvisieren". "Der Improvisator" heißt einer von Andersens frühen Romanen, und diese Berufsbezeichnung erfasst wie keine andere das Spezifische und Einzigartige an Andersens Kunst. Gleich ob man von Andersens Märchen und Gedichten, seinen Scherenschnitten und Collagen oder seinen Reiseskizzen spricht, stets handelt es sich um improvisierte, von der Gunst des Augenblicks bestimmte Schöpfungen, an denen nur der wirklich Anteil hat, der auch Zeuge ihrer Herstellung war. Auch mit seinen Lieblingswerkzeugen Feder und Schere ist Andersen im Grunde ein Theatermann, ein Mann der "Vorstellung" im doppelten Sinn: der Einbildung ebenso wie der Aufführung. Kein Wunder also, dass es ihn in Kopenhagen 1819 sogleich auf die Bühne drängt. Zuvor muß freilich die Bühne von seinem Talent überzeugt werden.

Viele andere berühmte Köpfe des Goldenen Zeitalters hat Andersen in jenen Wochen mit seinem Besuch überrascht: Direktoren des Königlichen Theaters, die erste Tänzerin des selben Theaters und nicht zuletzt Giuseppe Siboni, den Sing- und Kapellmeister. Wie der günstige Zufall es will, hat Siboni an diesem Abend Besuch. Jens Baggesen ist zugegen, einer der großen dänischen Dichter dieser Zeit, und er wird, kaum dass Andersen sein Potpourri aus Liedern und Gedichten dargeboten hat, die Prophezeiung wagen, "aus ihm wird einmal etwas werden!". Und Baggesen fügt noch, an den Jungen gewandt, vielsagend hinzu: "Aber werde nur nicht eitel, wenn das ganze Publikum dir applaudiert!", was Andersen nicht hinderte, ein, wie sein Biograph sagt, großer 'Poseur' zu werden. Noch am selben Abend ist jedenfalls beschlossen: Andersen wird eine Stimm- und Gesangsausbildung erhalten und außerdem Deutschunterricht nehmen. Später kommen noch Tanzstunden hinzu, bis irgendwann schmerzlich klar wird, dass der junge Mann vom Lande mit seinem dürren Leib, dem Vogelkopf und der spitzen Nase allenfalls fürs komische Fach geeignet ist.

Aber die Enttäuschung ist nicht von langer Dauer. Wieder finden sich Gönner und Förderer, die bereit sind, in Andersens Anlagen zu investieren. Jonas Collin, der Finanzchef des Königlichen Theaters, erwirkt, dass Andersen aus dem königlichen Fonds für öffentliche Aufgaben eine Schulausbildung ermöglicht wird - durch die Andersen seine literarische Neigungen entweder schulen oder, noch besser vielleicht, besiegen kann. Fünf lange Jahre verschwindet Andersen nun hinter den Internatsmauern von Slagelse und Helsingør, wo ihm der strenge Rektor Meisling Mathematik und Griechisch beizubringen und die poetischen Flausen auszutreiben versucht. Was das Letztere angeht, bleibt der Versuch ohne Erfolg. 1828 ist Andersen wieder in Kopenhagen, hat sich einen Fundus an klassischer Bildung erworben und will erst recht ein Dichter werden. 1829 erscheint sein erstes Buch, die spätromantisch-groteske "Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager", und macht Hans Christian Andersen mit einem Schlag berühmt.

Jens Andersens Biographie ist nicht die erste des Märchendichters (von den vorangegangenen sind besonders die Bücher von Elias Bredsdorff aus dem Jahre 1979 und die von Jackie Wullschlager von 2000 zu nennen), sicher aber die gründlichste; wobei die Gründlichkeit an keiner Stelle die Lesbarkeit beeinträchtigt. Im Gegenteil, dies ist eine mit Vergnügen zu lesende, überaus lehrreiche und dabei höchst anschauliche Lebenserzählung, in der das neunzehnte Jahrhundert, Andersens Jahrhundert, stets mit porträtiert wird. Besondere Mühe verwendet Jens Andersen darauf, das Gewebe aus Fakten und Fiktionen zu untersuchen, das Hans Christian Andersen selbst seinem Lebensstoff übergezogen hat, sei es um Unliebsames zu verbergen oder um dem Verborgenen zur einzig möglichen Darstellung zu verhelfen. Märchenromantik und Lebensrealismus oder, warum nicht umgekehrt, Märchenrealismus und Lebensromantik gehen dabei Hand in Hand. Beschönigung und Grausamkeit, Alptraum und Idylle, beides findet sich bei H. C. Andersen auf engstem Raum. Wäre das nicht Grund genug, dem Mann und seinem Werk mit den Methoden der Psychoanalyse zu Leibe zu rücken? Gibt es in seinen Märchen nicht zuhauf Symptome wie jene, die Freud und nach ihm Lacan an E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" freilegten? Und ist nicht Andersens sexuelle Konstitution, und mit ihr die mancher seiner Figuren, ein "offenes Geheimnis"?

Auf alle diese Fragen würde Jens Andersen mit "Ja" antworten, aber er lehnt es ab, mit Begriffen zu hantieren, die zu Lebzeiten seines Helden noch nicht existierten. Zwar räumt er in seiner Biographie Andersens Geschlechtlichkeit sehr viel Raum ein, aber er ist dennoch nicht bereit, ihr deshalb eine moderne Diagnose auszustellen. Hans Christian Andersen war, wie Leser seiner Tagebücher und Briefe wissen, unzählige Male verliebt, mal in Frauen, mal in Männer, in der Regel jedoch unglücklich. So etwa in seinen Lebensfreund Edvard Collin, den Sohn des Theaterprinzipalen und Gönners Jonas Collin. Nicht einmal zum freundschaftlichen "Du" ließ Edvard sich erweichen, geschweige denn zu anderen Herzlichkeiten, auch wenn er Andersen sein Lebtag lang unterstützte und ihm zuletzt sogar seinen Platz in der Familiengrabstätte überließ. Zurückweisungen und Verschmähungen wie diese sind bei Andersen zu Märchenstoff geworden. Sie sorgen für die Bitterkeit in der Süße, die im Zusammenklang das besondere Aroma dieser Märchen erzeugt. Aber was war Andersen, geradeaus gefragt nun: ein Homosexueller? Sein Biograph meint:

"Man sollte sich davor hüten, Hans Christian Andersens Sehnsucht nach einem intimeren und vertrauteren Verhältnis zu Edward Collin als Beweis seiner Homosexualität zu werten. Denn in Wahrheit ist damit nur ein kleiner Teil des Eros dieses Dichters beschrieben, dessen Zuneigung und Liebe sich auf mehr als nur einen Menschen oder ein Geschlecht erstreckte. Andersen war - auch auf diesem Gebiet - eine ausgefallene Spielart der Natur. Wir verstellen uns nur den Blick auf sein extrovertiertes Wesen und die damals erheblich nuanciertere Auffassung von der Rolle des Mannes, wenn wir ihn in eine Schublade mit der Aufschrift 'homosexuell', 'heterosexuell', 'bisexuell' oder 'asexuell' stecken wollten. Andersens Art, sich in viele Männer und nur relativ wenige Frauen zu verlieben, seine Neigung zu Männerfreundschaften, muss aus den Voraussetzungen seiner Zeit verstanden werden. Zum Menschenbild der Romantik gehörte auch die platonische Liebe.

In der Idee der empfindsamen Freundschaft unter Männern lag immer die Möglichkeit der Entscheidung zwischen einem 'Gefühl der Liebe' und dem direkten sexuellen Akt. Ein Mann wie Hans Christian Andersen bevorzugte den platonischen Aspekt, den Voltaire als 'Metaphysik der Liebe' bezeichnete. Für jenen waren seelische Eigenschaften anziehender als die körperlichen, den größten Teil seines Lebens verhielt er sich asketisch gegenüber der sexuellen Seite des Lebens."

Nun ist "Askese" für Andersens Enthaltsamkeit vielleicht nicht das passende Wort. Falsch wäre jedenfalls die Vorstellung, Andersen hätte sein sexuell-erotisches Unglück in der Kunst erfolgreich "sublimiert" - auch dies ein Begriff aus neuerer Zeit. Eher verhält es sich wohl so, dass Andersens sexueller Schwebezustand, sein "Wollen, aber nicht Können", sein "Nicht Wollen, aber Müssen" in allen seinen Lebensäußerungen, den künstlerischen wie den künstlerischen, mehr oder minder offen zu Tage tritt, nicht immer als Problem, immer jedoch als Tatsache. Daß Andersens Leben und Schaffen insgesamt im Zeichen einer sexuellen Anomalie stehe, hat als Erster - und mit kaum zu überbietender Deutlichkeit - Søren Kierkegaard festgestellt. Selbst ein Junggeselle par excellence, verfügt Kierkegaard obendrein über das Quantum an Scharfsinn und Bosheit, um Andersen mit einem einzigen Satz dem Gespött preiszugeben.

In seinem achtzig Seiten langen Verriss des Andersen-Romans "Nur ein Spielmann" bemerkt der junge Theologe Kierkegaard im Jahre 1838 in einer Fußnote: "Andersens erste Potenz ist eher mit jenen Blumen zu vergleichen, bei denen das Männliche und das Weibliche auf einem Stengel bei einander sitzen." Um die These vom androgynen Andersen weiter zu stützen, vergleicht ihn Kierkegaard mit einer Amphibie, die, mit Froschbeinen und Salamanderschwanz, von Ferne an Andersens "Kleine Meerjungfrau" erinnert. In dieser Äußerung manifestiert sich nicht gerade das große Herz des Romantik für männliche Erotik gleich welcher Spielart, sondern eher schon Kierkegaards Bereitschaft, einen literarischen Rivalen notfalls auch sexuell zu diskriminieren. Andersen empfand "Seelenmarter", als er von Kierkegaards Attacke Kenntnis erlangte; und er rächte sich mit einem Einakter, in dem er dessen Gemeinheiten einem schwadronierenden "Theater-Friseur" in den Mund legte. Zwischen Kierkegaard und Andersen war fortan das Tischtuch zerschnitten. Sie fanden nicht mehr zusammen, auch nicht, als Kierkegaard Andersen 1849 ein Exemplar seines "Entweder - Oder" schickte und Andersen gerührt antwortete: "Gott segne sie! Danke, danke! - Ihr von Herzen ergebener H. C. Andersen."


Von den vielen Lebensrollen des H.C. Andersen ist in dieser Biographie die Rede: vom Stamm- und Dauergast in europäischen Höfen und Herrenhäusern, vom Reisenden, der, oft jahrelang unterwegs, halb Europa erkundete, weil man ihn zu Hause nicht genug liebte, vom Hypochonder, dessen Zipperlein, ähnlich wie die Thomas Manns, ganze Tagebücher füllten, vom Verehrer des Fortschritts, der sich für Eisenbahnen und Dampfschiffe begeisterte wie kaum ein Dichter vor ihm, und vom "natürlichem Kind", das aus einer armseligen Schuhmacherfamilie in Odense davonlief, um eine europäische Berühmtheit, ein reicher Mann und, bis heute, einer der meistgelesenen Autoren der Welt zu werden. Andersen war, wie man weiß, mehr als nur ein Märchenerzähler , und er litt darunter, dass sein übriges Werk dahinter zurückstand. Ohne die Märchen aber, die er ab 1835 - und zunächst in der Absicht, endlich Geld zu verdienen - schrieb, wäre Andersens Ruhm längst verblasst. Mit Andersens Märchen ist, so kann man beinahe ohne Übertreibung, die Kindheit literarisch in die Welt gekommen; nicht die strenge und pädagogisch flankierte Kindheit der deutschen Klassik, sondern eine ungestümere, weniger gezähmte Version des Kindes, die ihm das Recht einräumt, notfalls auch gegen die Erwachsenen "natürlich" zu sein und zu bleiben.

"In der Romantik wurde das Kind auf das hohe Piedestal der Poesie gehoben und die kindliche Natur als unbestechliches Ideal und nie versiegende Inspirationsquelle verehrt; als Andersen 1835 auf die Bühne der Weltliteratur trat, hob er das unmündige Kind von diesem Sockel herunter und wies ihm mit den kindgemäßen, natürlichen Voraussetzungen seinen Platz in der Literatur zu. Von nun an ließ er Kinder jeden Alters und Geschlechts - 'die Stimmen der Unschuld' - mit eigenständigen Äußerungen und Dialogen zu Wort kommen, in denen die Lebenslügen der Erwachsenen hinterfragt und bloßgelegt werden. 'Aber er hat ja gar nichts an!' sagt das kleine Kind unter lauter stummen Erwachsenen, als der nackte Kaiser in seinen vermeintlich neuen Kleidern vorbeikommt. Bis das ganze Volk schließlich im Chor ruft: 'Er hat ja auch nichts an'!" (...)
In seinem Vorwort zu Émile schrieb Rousseau, er wünsche sich, dass irgendwann einmal ein Mann mit Klugheit und Urteilskraft den Menschen ein Lehrbuch geben würde, wie man Kinder wahrzunehmen habe, eine derartige Schrift wäre von großer Bedeutung für die Bildung der Menschheit. Gewissermaßen hat Hans Christian Andersen mit seinen mehr als einhundertfünfzig Märchen, die in den Jahren von 1835 bis 1875 entstanden, dieses 'Lehrbuch' geschrieben."

Ein "Lehrbuch" also über Kindheit und Kinder, vor allem aber eines für Kinder, ist damit, wie der Biograph meint, Andersens Märchen-Korpus treffend beschrieben? Gibt es einen Weg, der von Rousseau über Hans Christian Andersen bis hin zu Astrid Lindgren führt, einen Weg, auf dem "das Kind" lernt, frei zu sein und frei sein zu dürfen? Der heitere Plauder- und Fabulierton in Andersens Märchen kann kaum über die Abgründe hinweg täuschen, von denen seine Geschichten zeugen. Jens Andersens Biographie zeigt sich, wenn es um das Unheimliche, das Ambivalente und Perverse an Andersens Erfindungen angeht, ein wenig zu geburtstäglich-gutmütig. Dabei genügt doch ein Blick auf die Instrumente von Andersens Schaffen, um nicht nur kindliche Ängste zu wecken. Was für ein Erlebnis mag es gewesen sein, wenn der spindeldürre Mann mit einer Schere in der Hand ein Kinderzimmer betrat, um, klippklapp, mit seinem Werkzeug im Handumdrehen die wunderlichsten Figuren auszuschneiden, klein genug, dass sie in einer Streichholzschachtel Platz fanden? Die Schere, das Instrument der Kastration und der Zensur, sie spielt bei Jens Andersens bloß die Rolle eines anderen harmlosen Requisits neben Klebstoff und Papier. Dabei sind die Scherenschnitte, genau wie die Märchen, in ihrer Mitteilung oft so eindeutig, dass sie der Interpretation kaum noch bedürfen.

Auf einem der Scherenschnitte ist beispielsweise zu sehen, wie man Frauen auf Distanz hält; freilich nicht in allegorisch verschlüsselter Darstellung, sondern in Form zweier überlanger und dünner Hände, die von oben dem kleinen Kopf einer Ballerina entgegen gestreckt sind, als wollten oder müssten sie sich ihrer erwehren. So sprechend sind fast alle Bilder und Texte Andersens; kaum je machen sie aus ihrem Geheimnis ein Geheimnis. Dass sie außerdem noch zu vielerlei anderen Deutungen einladen und sich in privaten Assoziationen keineswegs erschöpfen, macht ihren Reichtum aus; einen Reichtum, den Kinder nicht ausloten können und Erwachsene erst recht nicht. Vielleicht bietet das Geburtstagsjahr 2005 noch einmal die Chance, den ganzen Andersen in Erinnerung zu rufen, den Märchenerzähler neben dem Romancier, dem Lyriker und Dramatiker; und nicht nur nebenbei den bildenden Künstler. Keiner hat wohl Andersens Bedeutung treffender in einen Satz gefasst als der französische Schriftsteller André Gide in einem Gespräch mit Julien Green. Es werde nicht genug bedacht, so Gide, dass Andersen "einer der wenigen Menschen waren, die Mythen schufen".

!!Jens Andersen: Hans Christian Andersen. Eine Biographie.
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2005
806 Seiten, 28,00 €


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#26

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 24.08.2010 21:48
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Das Buch kannte ich noch nicht! Hurra! Ich hatte zum Andersenjahr damals etliches erarbeitet, aber dies ist 2005 erst erschienen, da waren meine Notizen schon fertig.
Es scheint eine sehr gute Analyse zu sein. Den Streit zwischen Andersen und Kierkegaard fand ich ungeheuer interessant- irgendwo sind sie gar nicht unähnlich, aber sie haben verschiedene Wege eingeschlagen, um mit sich und ihrem Leben fertig zu werden. Mein erster Gedanke war. "Der reinste Zickenkrieg! Mannsbilder halt."


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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#27

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 25.08.2010 10:27
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

Wo wir so schön beim lästern sind, ist Dir die Bekanntschaft mit Charles Dickens ein Begriff?
Ich finde das so heftig,hab in den Weiten des www was gefunden und versuche mal zu übersetzen:

Besuch bei Dickens

Im Juni 1847 machte Andersen seinen ersten Besuch in England und genoss einem triumphalen gesellschaftlichen Erfolg während des Sommers. Die Gräfin von Blessington hatte ihn zu ihren Veranstaltungen geladen, bei denen sich intellektuelle und berühmte Leute treffen konnten und führte ihn dort ein. Dort traf er Charles Dickens zum ersten Mal. Sie schüttelten einander die Hände und gingen gemeinsam zur Veranda. Andersen fühlte sich sehr beglückt. Er schrieb in sein Tagebuch: „..., als wir zur Veranda gekommen waren war ich so glücklich, Englands bekannten zeitgenössischem Autor, den ich von allen am meisten verehre,zu sehen und zu sprechen .“

10 Jahre später, reiste Andersen nach England,hauptsächlich um Dickens zu besuchen. Er blieb bei Dickens für fünf Wochen.War dort aber zunehmend ungern gesehen.Die Tochter von Dickens sagte über Andersen: „er war eine knöcherne Nervensäge, und ist und ist geblieben.“
Kurz nach Abreise Andersens, veröffentlichte Dickens David Copperfield, das kriecherische des Uriah Heep, so wird gesagt, soll nach Andersen modelliert worden sein. Andersen genoß den Besuch und verstand nie, warum Dickens aufhörte, seine Briefe zu beantworten.


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#28

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 25.08.2010 10:38
von Gemini | 11.637 Beiträge | 12100 Punkte

englische Texte gehen auch darauf ein und werden bestimmt noch bessere Quellen aus der Dickensforschung zur Verfügung haben...

http://www.thaindian.com/newsportal/worl...s_10052869.html

Besuch aus der Hölle ist ja schon krass - obwohl ich fragte mich, als ich das erste Mal erfuhr: fünf Wochen statt der geladenen zwei zu bleiben - ob es in Dänemark nicht das Sprichwort gibt vom Fisch und Besuch...

Hier ist die Episode auch gut besprochen

http://litscribbles.wordpress.com/2009/0...ale-friendship/


Liebe Grüße
Bettina

Rezitante und Musäusfan-ny
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#29

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 25.08.2010 13:29
von Leselust | 2.098 Beiträge | 2098 Punkte

Andersen war, soweit ich das herausbringen konnte, ein zugleich egozentrischer und ängstlicher Mensch, der ständig nach absoluter Zuneigung suchte. Also ein Typ, der durchaus auf die Nerven gehen konnte. Aber daß er den Antisemiten Dickens - wenn auch unfreiwillig - geärgert hat, finde ich gut, der hats nicht besser verdient.

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#30

RE: Einschätzung der Andersenschen Erzählkunst

in Andersenmärchen 26.08.2010 00:40
von Allerleirauh | 91 Beiträge | 143 Punkte

Ein Pluspunkt für Andersen- der war übrigens überhaupt nicht antisemitisch, hatte überhaupt erstaunlich wenig Berührungsängste bei anderen Religionen und Kulturen.
Die Story mit seinem Englandaufenthalt kenne ich ausführlich, sein Verhalten grenzte da ans Psychotische.
Ob er einfach eine labile Phase hatte oder ob er mit Charlie und goog old England nicht klar kam weiss ich nicht. Besonders erstaunlich, da er an sich sehr reisefreudig war.
Diese Auseinandersetzung mit Andersens Werk ist sehr aufschlussreich. allerdings befasst sie sich mit dem Reiseschriftsteller Andersen nicht dem Märchenerzähler.
http://webcache.googleusercontent.com/se...e&ct=clnk&gl=de


Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.

Hans Christian Andersen
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